Ukraine - © Foto: Getty Images / Bloomberg / Christopher Occhicone

Ukraine-Krise: Planspiele der Angst

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Bis zu 130.000 russische Soldaten an der Grenze. Kommt jetzt der Krieg? Bei Bürgern und Experten in der Ukraine steigen die Sorgen, aber man versucht sich zu beruhigen. Ein Lagebild aus der Hauptstadt.

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Bis zu 130.000 russische Soldaten an der Grenze. Kommt jetzt der Krieg? Bei Bürgern und Experten in der Ukraine steigen die Sorgen, aber man versucht sich zu beruhigen. Ein Lagebild aus der Hauptstadt.

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Auf den ersten Blick mag es ein völlig normaler Freitagabend in einem georgischen Restaurant im Kiewer Bezirk Podil, dem historischen Zentrum der ukrainischen Hauptstadt, sein. Ganz voll ist das Lokal nicht, doch die Mitarbeiter sprechen von einer höheren Anzahl der Besucher als sonst um die Jahreszeit. Das Team des Restaurants, fast ausschließlich junge Männer um die 20, zeigt sich in privaten Gesprächen freilich besorgt. „Panik sehe ich nicht – und ich habe auch selbst keine Angst. Dem Restaurant geht es ebenfalls durchaus gut“, erzählt der Manager Denys Hawrylenko. „Die Nachrichtenlage verfolge ich aber schon mit Sorge.“ An einen Großangriff Russlands glaubt er nicht, jedenfalls will er noch nicht seinen Notfallrucksack packen. „Wenn der Ernstfall dennoch eintrifft, würde ich selbstverständlich kämpfen. Es bliebe nichts mehr übrig, als das Land zu verteidigen“, betont er. Einer seiner Kellner, Mychajlo Boschko, hätte dafür sogar ein Jagdgewehr parat. „Natürlich mit Waffenschein“, versichert er.

Historische Lasten

Auch die Tanzlehrerin Karina Stez, Mitte 20, ist wegen der aktuellen Lage nervöser als sonst, obwohl auch sie eine vollständige russische Invasion für unwahrscheinlich hält. Stez stammt aus Sewastopol auf der im März 2014 annektierten Krim, gehörte nicht zu den Unterstützern der russischen Annexion und lebt derzeit in einer Vorstadt von Kiew. Sie ist nicht zuletzt aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen besorgt: „Wir haben selbst erlebt, wie inadäquat Russland doch agieren kann. Daher kann man von Moskau alles erwarten, vor allem im negativen Sinne“, sagt sie. Panik habe Stez nicht, die Besorgnis steigt aber jedenfalls: „Ich will gar nicht erst nachdenken, was passiert, sollte Russland angreifen.“ Ähnlich sieht die Situation Wiktorija, die als Verkäuferin in einem Männerkleidungsgeschäft im Kiewer Randbezirk Obolon arbeitet. Für den Fall der Fälle hat die etwa 35 Jahre alte Frau die notwendigsten Lebensmittel eingekauft – dazu gehören einige Tafeln Schokolade, selbst in absoluten Krisensituationen brauche man einen Grund zu Freude, meint Wiktorija.

Doch die allermeisten Sorgen macht sie sich um ihren herzkranken Vater, der in einer Kleinstadt im Bezirk Tscherkassy südlich von Kiew wohnt. Zwar ist diese weit von der russischen Grenze weg. „Mich beschäftigt aber dennoch, ob im Falle eines Krieges die nötigen Medikamente rechtzeitig geliefert werden“, betont sie. „Die Ukrainer sind besorgt, doch es gibt keine Panik“, beschreibt der Politikwissenschafter Petro Oleschtschuk von der Kiewer Schewtschenko-Universität die Stimmung gegenüber der FURCHE. „Die fast acht Jahre des Donbass-Krieges sind wie eine Art Impfung gegen die Letztere. Man weiß, dass eine Zuspitzung jederzeit kommen kann.“ Tatsächlich gehört der Konflikt mit Russland seit der Annexion der Krim und dem Beginn der Kämpfe zwischen den prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee im April 2014 zum Alltag der Ukrainer. Doch die Stimmung hat sich inzwischen deutlich gedreht.

Während Anfang Jänner die Gesellschaft vor allem über die politisch inkorrekte Darstellung einer Ukrainerin in der Netflix-Erfolgsserie „Emily in Paris“ diskutierte, scheint die Lage an der Grenze, wo sich nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministerium bis zu 130.000 russische Soldaten befinden, aktuell das Gesprächsthema Nummer eins auf den Straßen der Hauptstadt Kiew zu sein. Grund dafür ist vor allem die scharfe Linie der USA, die ausdrücklich vor einer bevorstehenden russischen Invasion warnen. Der ukrainische Präsident Wladimir Selenski zeigt sich mit dieser Informationspolitik sichtlich unzufrieden, spricht von grundloser Panikmache (siehe auch Seite 5). Der Politologe Heorhij Tschychow, Koordinator der Expertengruppe „Europäischer Dialog“ in der Ukraine, hält es für seltsam, dass Kiew und Washington ihre Kommunikation immer noch nicht abstimmen können.

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