Abschied vom Spiegelbild

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In der Verwechselbarkeit der Zwillinge wurzelt die Tragödie.

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In der Verwechselbarkeit der Zwillinge wurzelt die Tragödie.

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Geschwisterliebe, Geschwisterhass: Seit Kain und Abel ein wiederkehrendes Thema in der Literatur. Der 1960 in Graz geborene Wilfried Ohms stellt in seiner Erzählung "Abschied vom Spiegelbild" eine sozusagen gesteigerte Geschwisterbeziehung in den Mittelpunkt: Der Ich-Erzähler hat einen Zwillingsbruder. Eines Nachts "schreckte mich ein Blitz auf, der quer durch beide Augen lief. Meine Glieder zuckten, als hätte sie ein heftiger Stromstoß elektrisiert. Eine furchtbare Gewissheit breitete sich in mir aus wie Wellenkreise, wenn man einen Stein ins Wasser wirft." Das unheimliche Erlebnis findet am folgenden Morgen seine Erklärung, als er erfährt, dass sich sein Zwillingsbruder erhängt hat. Die Geschichte besteht aus dem Versuch, diesen Tod anzunehmen und aus Rückblenden in die gemeinsame Kindheit. Eineiige Zwillinge müssen nicht in den Spiegel schauen, um sich zu sehen. Was in Schwänken komisch wirkt, nämlich dass die Umwelt zwei Menschen nicht unterscheiden kann, ist hier tragisch. Die beiden Kinder möchten eine eigene Identität, aber selbst in der eigenen Familie heißen sie immer nur "die Zwillinge", sogar nach dem Tod des einen spricht die Mutter den Überlebenden mit dem Vornamen des Toten an: "Ich schlage im Wörterbuch nach, ob das Wort Zwillingswaise existiert."

Der Kampf um das eigene Ich, den sie ausfechten, wenn sie miteinander allein sind, verwandelt sich in gemeinsames Auftreten nach außen: "Unsere Ununterscheidbarkeit rieb man uns unter die Nase, als sei sie das schwerste aller denkbaren Verbrechen. An der Gleichartigkeit unseres Aussehens schien sich halb Graz zu stoßen. Für die Leute war sie eine von uns ersonnene Perfidie. Nur dazu gut, Verwirrung und Unfrieden zu stiften." Ohne die Möglichkeiten der Gentechnik auch nur zu erwähnen, hat Wilfried Ohms die Schwierigkeiten des (von der Natur) geklonten Menschen ausgemalt.

Die Erzählung hat jedoch eine noch erschreckendere Dimension. Schritt für Schritt enthüllt sich das Zerstörungswerk von Eltern, die sich nie Gedanken über das Gleichgewicht von Behüten und Loslassen gemacht haben. Der Vater: Generaldirektor einer Bank. Man kann sich eine teure Erziehung leisten: "Der Vater bezahlte Klosterschwestern und Kindergärtnerinnen, damit sie das von ihm an uns begonnene Zerstörungswerk fortsetzen und vollenden sollten, was sie gewissenhaft und nicht ohne Freude taten." Während die Oberin die Buben zwischen zwei Doppeltüren eingesperrt hält, prophezeit sie ihnen eine Verbrecherkarriere. Mit sparsamen erzählerischen Mitteln, fast wortkarg, entwirft Ohms das Bild einer Hölle, aus der sich nur der Ich-Erzähler einigermaßen befreien kann, während der Zwillingsbruder trotz Flucht ins Ausland nicht entkommt: gescheiterte Ehen und Berufskarrieren, Bankrott, Alkoholismus, der Strick: "Seine Geschichte ist meine ist unsere... Stets aufs neue verwundert mich die Tatsache, dass Leben, das aus einer Zelle entstanden ist, mehr als einen Tod besitzt." Wer Geschwister hat und in einem brauchbaren Einvernehmen mit ihnen lebt, leidet auch mit ihnen.

Was das Buch von Ohms so faszinierend macht, ist, dass hier einer nicht nur mit dem Kopf und dem Herzen, sondern am eigenen Körper verspürt: Es geht um Leben und Tod meines Bruders. Der eine setzt seinem Leben ein Ende, der andere hat trotz identischer Anlagen und Erziehung die Kraft zum Leben. Aber immer häufiger denkt er an ihn, als sei er bestimmt gewesen, "mir das eigene Leben, das eigene Scheitern, erbarmungslos vorzuführen."

Abschied vom Spiegelbild. Erzählung von Wilfried Ohms Verlag C. H. Beck, München 2000, 119 Seiten, geb., öS 204,-/e 14,83

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