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Man gewöhnt sich an edles
Man gewöhnt sich an alles. Man fährt zur Kur oder in den laub, man hat Ruhe und wird bedient, man muß nicht arbeiten - man gewöhnt sich so schnell daran, daß eine Postkarte zu schreiben einem wie eine schwere Arbeit vorkommt. Dann kommt man nach Hause zu seinem lieben Streß, auf den alle schimpfen und ohne den niemand leben kann, und man gewöhnt sich wieder schnell.
Seinerzeit war ich gewohnt, überall der Jüngste zu sein - an der Fakultät, in der Redaktion, in der Gesellschaft ... Jetzt bin ich lange nicht mehr der Jüngste, im Gegenteil, oft sogar der Älteste in irgendeiner Gesellschaft -man gewöhnt sich allmählich daran. Man spricht und witzelt mit einer jun -gen schönen Frau mit tiefen dunklen Augen, deren Glanz von innen kommt; sie spricht freundlich, witzelt auch, lächelt einen an - und weiter nichts, weiter nichts. Auch an das weiter nichts gewöhnt man sich, wenn auch ungern.
Millionen von Menschen, Millionen von Kindern hungern in unserer Welt. Jeden Tag lesen wir darüber, hören und sehen Bilder. Es ist sehr schlimm, aber - man gewöhnt sich. Man hat ja auch selber manchmal Zahnschmerzen oder Probleme mit dem Übergewicht. Man gewöhnt sich auch daran, daß man sich über den schlimmen Zustand der Welt empört, ab und zu sogar ein wenig Geld spendet. Was kann man machen? Man ist ja schon gewöhnt.
Menschen werden geraubt und als Geiseln gehalten, um andere zu erpressen, mal einer, mal hundert. Es ist ja schon heute eine alltägliche Sache, man hat sich an Erpressung gewöhnt und auch daran, daß man der Erpressung in der Begel nachgibt. Gewohnheitssache.
Die Herren Erpresser und diejenigen, die aus Angst um ihre Machtposten Unschuldige einsperren lassen, haben sich auch daran gewöhnt, daß die sogenannte freie Welt (wirklich frei wird sie erst dann sein, wenn sie sich von ihrer dämlichen Ängstlichkeit befreit) eine Weile protestieren wird. Sie lesen vielleicht die Proteste zwischen Mittagessen und Mittagsschlaf, um die Verdauung zu erleichtern. Man wird wieder nachgeben, mit ihnen Geschäfte machen, man wird ihnen ihre blutigen Hände schütteln und mit Sekt zuprosten.
Man hat sich gewöhnt, daß sich die Demokratien lange wehrlos stellen und Wahnsinnigen Zugeständnisse machen. (Einst gab es nur einen Hitler, wie viele gibt es von dieser Sorte heute?) Einmal werden sie sich zur Wehr setzen - für wie viele Millionen Menschen wird es diesmal zu spät sein?
Als die NKWD uns, Flüchtlinge vor den Nazis, im Jahre 1940 nach dem Ural verfrachtete, wo es Tausende Kilometer Taiga und fünfundvierzig Grad Frost gab, sagten uns die Einheimischen: „Wirst du hier eine Weile leben, wirst du dich gewöhnen. Wirst du dich nicht gewöhnen - wirst du krepieren.” Bichtig. Man kann aber auch daran krepieren, daß man sich gewöhnt.
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