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Fliehende Stunden

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Man sitzt, einziger Einzelgast, zwischen den Pärchen im Salon. Man hört wie sie reden, man versteht was sie sagen, aber man möchte nicht hinhorchen, man wünscht diese Menschen, die einander gefunden haben, weit fort. Man findet sich ab mit der Zuschauerrolle, schließlich wird man gleichgültig, dann hochmütig, und man bestellt heiße Schokolade mit Schlagobers.

Man öffnet die auf der Rückreise aus Griechenland im April in Villach erstandene Büffelledertasehe, man staunt, wie zerkratzt das teure Leder schon ist, man entnimmt der Mappe den Schreibblock, man schlägt die erste Seite auf, man freut sich, weil sie leer und weiß ist, man sucht nach dem Kugelschreiber. Man findet ihn in der rechten Rockaußentasche, man dankt dem Kellner, der gerade das Bestellte auf den runden Tisch stellt, man verlangt jetzt auch Sachertorte, wieder mit Schlagobers. Man erhält das nachträglich Gewünschte augenblicklich, man muß kaum darauf warten, und man schiebt die heiße Schokolade wie die Sachertorte beiseite, um Platz zum Schreiben zu haben.

Man liebt große Gesten, auch wenn man es abstreitet. Man liebt Sachertorte mit Schlagobers, heiße Schokolade mit Schlagobers, man weiß natürlich, daß man zu fett ist, daß man dergleichen nicht essen sollte, aber man mißachtet wie stets in entscheidenden Augenblicken die in diesen Speisen enthaltene Drohung des Fettwerdens, indem man sofort zu essen beginnt, hineinzuschlingen, zu trinken, viel zu gierig und rasch, weil man fertig werden will, um zu schreiben. Solange man nicht gegessen und getrunken hat, gibt es keine Schreibruhe, hat man aber erst gegessen und getrunken, gibt es keine Schreiblust. Uberwindet man sich jedoch und fängt zu schreiben an, verliert man jede Eß- und Trinkruhe. Auch das ist schlecht, ja mitunter tödlich.

Man hört jetzt wieder die Stimmen der Pärchen, man fühlt sich bedroht, man weiß nicht, sind die Stimmen lauter geworden, oder ist das Gehör feiner, ist man hellhöriger jetzt, man wundert sich, man stellt stumme Fragen, man erhält keine Antworten, man sitzt unangenehm berührt.

Man möchte den Tag zusammenfassen, sehr einfach, nicht analytisch, auch keinesfalls kompositorisch, weil man dazu keinen Ehrgeiz verspürt, man hätte auch wohl kaum die Fähigkeiten. Man will den Tag also nur chronologisch zusammenfassen, und man will auch den Winter vermeiden, weil man die Worte des Deutschprofessors, des leider verstorbenen, den man liebte, im Gedächtnis bewahrt, und weil dieser Deutschprofessor erklärte, daß „man" eines der häßlichsten Worte wäre. „Man", sagte der Deutschprofessor, „man" sei schlechtester Stil, „man" sei überhaupt kein menschenwürdiges Wort. Wichtig sei der Mut „Ich" zu sagen.

Man wird wieder aufmerksam auf das Schwätzen der Pärchen, man sträubt sich, mit diesen jungen Leuten im gleichen Saal zu sitzen, aber man bleibt. Man hört sie, halbe Kinder sie alle, über geborene und ungeborene Kinder reden, man erfährt die Kinderpläne, die Kindermathematik der jungen Paare. Plötzlich weiß man, daß die links außen zwei Kinder haben und kein Kind mehr wollen, man weiß, daß jene rechts ihr drittes Kind erwarten — mit gemischten Gefühlen, während die links innen kein Kind haben, aber später einmal ein Kind wünschen. Zwei andere, die in der Mitte sitzen, wollen nicht heiraten und wollen kein Kind, sie wollen nur miteinander schlafen, ohne Eifersucht, ohne Anspruch auf Zukunft.

Man hört einen anderen Mann erklären, daß er nur ein Kind haben möchte, weil er wisse, daß — jeder anderen Meinung zum Trotz - zwei Kinder doppelt so viel kosteten wie eines, und weil er für den eingesparten Geldbetrag für das nie zur Welt kommende zweite Kind wenigstens fünfzig PS mehr unter der Kühlerhaube seines Wagens haben werde. Man hört das und ärgert sich, man bedauert unbeteiligt das einmal zur Welt kommen müssende eine Kind, und man hört die verletzte Entgegnung der jungen Frau, dann haben wir doch überhaupt kein Kind, damit du hundert PS mehr im Wagen hast.

Man horcht auf, das ist eine bittere Antwort, der erste richtige Satz in dieser seltsamen Runde, aber gleich darauf hört man sie fachsimpeln, etwas aus der Optikerbranche, aus physikalischem Terrain, Linsen, Objektive, Rollei im Aufstieg, Zeiss habe Schwierigkeiten, wichtig sei nur die Konkurrenz der Japaner, das wisse doch jeder, verheerend aber verständlich, und man gewöhnt sich wieder an dieses Stimmenrauschen und hört nicht mehr zu, man ist wieder allein und beginnt abzutreiben.

Man ist um neun Uhr aufgestanden, aber nur, weil man geweckt wurde, und man empfand die morgendliche Übelkeit. Was für ein zielloser Tag! Man hat wachsende Schwierigkeiten, morgens aufzustehen, man kämpft um jede kleinste Verlängerung der Bettruhe, aber man weiß, daß es nicht nur Trägheit ist, die könnte man überwinden, sondern daß man Angst vor den Tagen hat. Man stand auf und war unentschlossen, man trat an das Fenster und sah Schnee. Man ging in die Küche zum Frühstück, man legte sofort eine Kassette mit Klaviersonaten von Mozart ein, um etwas zu hören vorzugeben, um nicht angesprochen werden zu dürfen, weil man immerhin kategorisch Ruhe fordern könnte, falls man angesprochen würde. Der Musiknarr, man darf ihn nicht stören, könnte es heißen.

Einmal angekleidet, folgt man der Frau, die man geheiratet hat vor sehr langer Zeit, in den Garten. Man beobachtet, wie sie einige Bäume mit Reisig umschichtet, zum zärtlichen Schutz gegen Frost und Schnee, so viel sichtbare Liebe in einer Fremden. Man hilft ihr nicht bei der Arbeit. Man läßt die Blicke wandern, als stünde Neuland um einen, und man staunt über die häßlichen Nachbarhäuser, man staunt, weil die Nachbarn Nachbarn sind.

Schon als Kind ist man in diesem Garten gewesen, es ist alles ererbt, man hat nichts erworben, man hat damals tote Mäuse und Vögel feierlich in dem Garten begraben, man hat sich vor Gewittern gefürchtet, man weiß es noch gut. Diese Nachbarn sind Kindheitsfeinde, aufgelassen, abgeschrieben, man grüßt einander und man empfindet Widerwillen. Man sieht den Hund des linken Nachbarn, der wie tollwütig rast und bellt, man erneuert den alten Haß gegen Hunde, man sagt zu der Frau vor einem, dieser Hund gehört umgebracht, vergiftet gehört er, und man hört die Angesprochene zischen, sei still, die Nachbarn hören alles.

Man kümmert sich nicht um die feinen Ohren der Nachbarn, aber man schweigt. Man geht in das Haus zurück, man legt den roten Wollschal um, man schlüpft in den grauen Wintermantel, man steckt Pfeife und Pfeifentabak zu sich, man vergißt die Streichhölzer nicht, man verläßt das Haus und den Garten und sagt nicht adieu.

Man hat einen neuen Winter erreicht, man schlägt sich von Winter zu Winter durch, man erreicht das Schloßcafe. Man kehrt noch nicht ein, man spaziert durch den Garten, man verliert seine Stunden, mein Gott, die Laternen leuchten bereits, man begegnet keinem Menschen. Im Schloßhof atmet man keuchend die größere Zeit, man sieht das offene Tor vor sich, man liest die Tafel, Silbe um Silbe, man weiß jetzt, „die Tore werden bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen". Aber man ist doch gerade erst geweckt worden, wohin ging der Tag, was ist geschehen, man legt eine eisige Hand an eine feurige Stirn, man will hineintreten in den ruhigen Park, aber gleich hat man Angst, die Tore könnten geschlossen werden, sie könnten nicht knarren, man merkte es nicht, und man würde im Park in so einem Winter in so einer Nacht bestimmt erfrieren, man macht sich nichts vor.

Man kehrt um und betritt das Schloßcafe mit Stammgastsicherheit. Doch schrumpft man sofort vor den anderen Gästen, man ist ja allein, man hört fremde Worte, man hört das eigene Schweigen, es sticht, es durchbohrt einen Schatten.

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