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Wales - Jas Land der Heiligen

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Vom gegenüberliegenden Plateau her wirkt das Schloß viel größer, als es heutzutage noch ist. Das machen die alten, den vorderen Hof schützenden Mauern. Es liegt auf einer Halbinsel, die keine zwei Kilometer breit ist, zwischen Milford Häven und dem Atlantik. Es gibt Tage, wo das Wasser des großen Hafens so blau ist, daß man sich am Mittelmeer glauben könnte. Dann aber gibt es Tage, wo der Westwind brüllend und pfeifend über das Land hinwegstürmt, tagelang. Die Insel draußen im Meer wird unsichtbar und das Heulen das Nebelhorns wird fast übertönt. Dann kann es vorkommen, daß Meerschaum durch die Luft getragen wird, und die Kinder hüpfen vor Freude und rufen, die hohen Stimmen förmlich aus dem Mund gerissen und fortgetragen: „Schau...“

An einem solchen Tag läutete im Schloß das Telephon.

„Hier Pater Edwards“, sprach es aus dem Apparat. „Sie möchten vielleicht wissen, daß ich morgen um 8 Uhr im Haus Ihrer Freundin Mrs. Jenkin eine heilige Messe lesen werde. Kennen Sie zufällig andere Katholiken in der Nähe, die kommen möchten?“

„Nein, Hochwürden, ich kenne keine anderen.“

„Gut. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

Meine Freundin hatte ihr kleines Wohnzimmer bereits hergerichtet. Ein altmodischer, etwas übelriechender Oelbrenner hatte die durchdringende, feuchte Kälte zum Teil besiegt. Auf der Anrichte hatte man ein weißes, damastenes Tischtuch ausgebreitet, darauf standen ein Kruzifix und zwei einfache, hölzerne Kerzenhalter, sonst nichts. Diesem provisorischen Altar gegenüber standen einige Küchensessel und zwei oder drei Klubfauteuils. Diese sahen gemü/tlieh-verlockend aus, aber offensichtlich wären die Federn hin; und ich mied sie, weil ich dachte: einmal drinnen, komme ich nicht mehr so leicht heraus.

Um 8 Uhr ist alles noch still. Um 8.10 Uhr auch. Plötzlich hören wir das Kreischen alter Bremsen und fröhliche Stimmen. Die Haustüre geht auf und der starke Luftzug fegt eine Reihe von Menschen zu uns herein: ein junges, dunkelhaariges Ehepaar mit zwei Kindern, zwei Burschen, drei ältere Frauen — nein, es ist nicht zu glauben. Sind alle im selben Auto mitgefahren? Ja. doch, da kommen sogar noch

Kinder: alle, wie man auch erwarten würde, italienische Landarbeiterfamilien. Wir lächeln einander freundlich, etwas verlegen, zu, wechseln ein paar Worte. Aber es geht nicht leicht. Nach mehreren Jahren können viele angesiedelte Italiener nicht viel Englisch, Und man denkt: Da sollte man die Messe in der Landessprache lesen. Anderswo vielleicht, Hier nicht I

Der Priester — er hat sich in einem Nachbarzimmer angekleidet — kommt herein. Er ist noch jung — keiner im Zimmer scheint das vierzigste Jahr überschritten zu haben —, hat einen gesunden, rosigen Teint und einen ruhigen, freundlichen Blick.

Wie lange ist es her, frage ich mich, seit deine Vorfahren in ihrem eigenen Heimatort eine katholische Messe mitfeierten? Vier Jahrhunderte ist es her.

Wir beten schon. „Kyrie eleison, Christe eleison...“ Elf Italiener, drei einheimische Konvertiten; der Priester ist auch Konvertit.

Wir sind in der Heimat des großen Landesheiligen von Wales, der imponierendsten Gestalt der keltischen Kirche: St. David, Dewi Sant. Er war fürstlichen Geschlechts, ein großer Organisator und Stifter; man sagt, daß er sogar zweimal nach Jerusalem gepilgert ist. Seine Kathedrale liegt in einem schmalen, seichten Tal, früher „Tal der Rosen“ genannt. In einer Seitenkapelle hängt eine Wandtafel, auf welcher die Namen der Bischöfe in goldenen Buchstaben zu lesen sind, und man wird nicht leicht ein unauffälligeres, gleichzeitig aber ein mehr frappantes Beispiel finden, das die englische Vorliebe für lückenlose Tradition darstellt. Die Namen folgen einander vom Anfang des 5. Jahrhunderts bis auf den heutigen Tag, und kein Strich, nichts, vermag anzudeuten, daß es einen letzten katholischen, einen ersten protestantischen Bischof gegeben hat. Die Mutter des Heiligen, St. Noh, war auch hier zu Hause, aber sie hatte ihre eigene Kapelle, und“ zwar nicht im geschützten „Tal der Rosen“, sondern oben auf der Heide, wo die Schafe weiden, unJ nur ein paar hundert Meter von den hohen Felsen.Große Reisende waren diese Kelten, und auch St. Non scheint vor dem Meer keine besondere Angst gehabt zu haben, weil sie öfter nach Devon und Cornwall hinuntergefahren ist.

Die Kapelle ist auf übliche Art und Weise verschwunden: man hat die Steine nach und nach abgetragen, damit sie einen anderen Zweck erfüllen. Sie sind Teile der niedrigen Steinmauern geworden, die seit eh und je dazu da sind, das Vieh vor dem Wind zu schützen. Sie sind also nicht weit weggekommen. Ein Katholik hat vor einigen Jahren begonnen, sich um die Sache zu kümmern. Er hat die Parzellierung gekauft und sich an die Arbeit gemacht, alle gemeißelten Steine ausfindig zu machen. Jetzt steht die Kapelle wieder, jedoch nicht an der ursprünglichen Stelle, die heute, infolge der ständigen Verwitterung und Zersetzung, denen die Felsen ausgesetzt sind, dem Abgrund zu nahe steht. Im Altar hat man das alte Taufbecken und einige kurvenförmige, aus Sandstein geschnitzte Bestandteile, die als Verzierung der ursprünglichen Kapelle gedient haben, so eingebaut, daß man sie betrachten kann. Die Innenwände sind kahl; man wollte die Steine, die die Heilige und ihr Sohn berührt haben, nicht verdecken.

Die Messe im kleinen Wohnzimmer geht ihrem Ende zu. Als ich vorher ankam, ist eine Möwe auf der Seemauer gestanden: mächtig, mit schwarzem Rücken, kräftigem Schnabel und kaltem, herablassendem Blick. Solche Möwen sind imstande, Schafe, die durch irgendwelche Umstände geschwächt sind, umzubringen. Mehrmals haben wir den Klageruf der Möwe gehört: „Aa-ia — Aa-ia“, und schließlich, mit bitter klingender Selbstironie: „Hahaha — Hahaha!“

Aus der Küche hört man das Pfeifen des Wasserkessels, und die Hausfrau verläßt leise das Zimmer. Gleich wird sie uns Tee und Kuchen anbieten; die Leute sind zum Teil von weit her gekommen und der Priester war yor Morgengrauen aufgestanden.

Wir knien noch einmal nieder, und der Priester betet mit etwas gehobener Stimme: „For the conversion of England: Hail Mary, füll of Grace...“

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