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AUFREGENDES BIEDERMEIER

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Vorarlberger Firmen finanzieren die wissenschaftliche Aufarbeitung von Stoffsammlungen aus der Biedermeierzeit. Diese waren • entgegen Klischeevorstellungen - modern und aufregend.

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Vorarlberger Firmen finanzieren die wissenschaftliche Aufarbeitung von Stoffsammlungen aus der Biedermeierzeit. Diese waren • entgegen Klischeevorstellungen - modern und aufregend.

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Kleine Blümchen, zarte Farben, feine Streifen gehören zum historischen Klischeebild des Biedermeier, jener bürgerlichen und idyllischen Zeit, die nicht erst der Vormärz aus der Beschaulichkeit riß. Der Beginn einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der umfangreichen Stoffsammlung im Österreichischen Museum für angewandte Kunst läßt heute schon ahnen, daß dieses Bild vom Biedermeier zumindest einseitig, wenn nicht falsch ist.

Das nämlich, was landläufig als Biedermeierstoffe gepriesen wird, sind typische Motive aus dem Rokoko, die in historisierender Weise als Biedermeier-Typus propagiert wurden. Die Textilindustrien und textilen Manufakturen des Biedermeier, etwa zwischen 1795 und 1850, haben in allen Kronländern der österreichischen Monarchie mit den unglaublichsten Farben und ausgefallensten Mustern experimentiert.

Die Beunruhigung durch den enormen industriellen und wissenschaftlichen Fortschritt hat ja geradezu die Sehnsucht nach der Vergangenheit gefördert, weshalb Herr und Frau Biedermeier nicht nach vorne, sondern zurückschauten. So blieben ihnen und den späteren Generationen, quasi bis heute, jene Stoffe verborgen, die dem modernsten Stand der

Technik und des Zeitgeschmacks entsprochen haben.

Diese an sich sensationelle Erkenntnis apostrophiert den Beginn einer wissenschaftlichen Bearbeitung der 33.000 Musterkarten umfassenden Stoffsammlung, deren Aufarbeitung eine Gruppe von Vorarlberger Textil-firmen finanziert. Es ist derselben Sponsorenelite unter den österreichischen Textilfirmen zu danken, daß die Stoffsammlung der Wiener Werk-stätte mit rund 11.000 Mustern und Entwürfen von Josef Hoffmann, Dagobert Peche et cetera nunmehr der Öffentlichkeit zugänglich ist. In etwa drei Jahren wird man sehen können, wie aufregend die Biedermeierzeit aus textiler Sicht war: den Grundstein für diese größte Sammlung in Europa legte Kaiser Franz mit seinem „Fabrikations-Produkten-Kabinett".

Archivierte Schätze

Jeder neue Stoff, der im Vielvölkerstaat erzeugt wurde, wurde fein säuberlich auf Karton geklebt, beschriftet und archiviert. Schwach beleuchtete und unbeheizbare Archivräume in den unteren Etagen des Museums für angewandte Kunst haben dazu beigetragen, daß der Musterschatz vorzüglich erhalten blieb. So leuchten Apfelgrün, Pink, Azurblau und Scharlachrot in unveränderter Frische und signalisieren in ihrer farbigen Aggressivität die imperiale Überlegung, die Uniformen auf grell und schreiend umzustellen. Die Farbkarten aus den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts würde man heute als typisch amerikanische Farben

der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Der Sommer 1992 wird ein Beispiel dafür sein.

Aber nicht nur die Farbigkeit spottete über die pastellige Blässe des offiziellen Biedermeier-Bildes, sondern auch die Muster kann man grosso modo nicht als klein und verspielt bezeichnen. Mailand trumpft mit großen, protzigen, goldstrotzenden Blumendessins auf, dagegen merkt man in Venedig den maurischen Einfluß in blau/braunen Streifen und minimalistischen Minimustern auf dunklen Fonds.

Geradezu hemmungslos sind dagegen die Stoffe und Muster aus Böhmen und Mähren, wobei Mähren modisch Anleihe an Ungarn nimmt, aber Böhmen einen völlig eigenständigen Stil an starkfarbigen und großformatigen Mustern hat. In Wien, das sieht man auch an den Mustern, sind die Handschriften und nationalen Besonderheiten der Kronländer verschmolzen, ohne sich in bürgerlicher Bescheidenheit zu üben.

Ganz im Gegenteil, imperiale Jacquards in leuchtenden Farben lassen in den zahlreichen Seidenmanufakturen die Sehnsucht nach der guten, alten Zeit vermissen. Hauchzarte Mousseline für Schals, Brache' und Brodearbeiten auf allerfeinsten Seiden entbehren selbst in unseren modisch transparenten Tagen nicht der Delikatesse einer durchaus aufregenden Zeit, in der sich die grundlegenden Veränderungen in den Stoffen abgezeichnet haben. Die textile Revolution hat um die Jahrhundertwende begonnen, und die politische ist ihr fast 50 Jahre später gefolgt.

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