„Verrückt und verbraucht ist die Seele“, schreibt Ungaretti für damals und heute, als schriebe er Psalmen: „Gott, sieh unsere Schwachheit. Wir möchten Gewissheit.“ Für dieses Verrücktsein brauchen wir keinen Fasching mehr mit seinem Witz. Es genügt schon, was wir einander sagen beziehungsweise dissen. Das Wort ist schon 20 Jahre alt und immerjung; leitete es sich aus dem Englischen to disrespect ab, meint es seit seiner Erfindung ein Anliegen mit einem sich steigernden Grausamkeitsgefälle, den Wunsch, eine andere Person schlecht oder verächtlich zu machen, sie zu schmähen. Das Wort hat sich entwickelt und gehalten. Es lässt sich durch alle Zeiten und Personenzustände konjugieren, auch im Konjunktiv. Es gibt sogar den Imperativ: Disse!
Dissen macht die Seele kaputt. Es passt herrlich ins dritte Jahrtausend. Ich glaube indes, dass hinter den Dissenden ein notleidendes Antlitz dunkeltraurig hervorlugt, das unsichtbar bleiben will den Opfern wie den Augen- und Ohren-Partizipierenden: Das in Angstschmieden geformte Gesicht, die innere Ansicht spiegelnd, an einem uneinholbaren Existenzmangel zu leiden, einem manchmal nur dumpf gefühlten Seinsbetrug.
Die Religionen aber versprechen – Gott sei’s gelobt und gedankt – dass Er oder Sie unsere Schwachheit und das Leiden an den Zuständen sieht und der Liebeslogos uns vergewissern will, dass unsere entfremdete Seele einmal und dann für immer geheilt werden soll. Die Theologie des Paul Tillich hatte die wunderbare Schwerpunktsetzung einer Healing-Power: „Kommt, meine Lieben, hier ist Ruhe, hier ist überwunden aller Unfriede, alle Sorge.“ Es gibt eine Stätte, „wo wir Heilung finden, bei Jesus, dem Heiland“, predigt der Erfinder des Neuen Seins. Von ihm lasst euch heilen, „kommt vor sein Angesicht, vor Gott, und eure Seele wird genesen“.
Die Autorin ist evang. Pfarrerin, freischaffend.
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