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Helfen statt einsperren!

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Bis auf eine, wenn auch wichtige Bestimmung-die Fristenregelung - war die Straf rechtsreform 1975 ein Konsens-Werk. Viele Hoffnungen wurden inzwischen enttäuscht.

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Bis auf eine, wenn auch wichtige Bestimmung-die Fristenregelung - war die Straf rechtsreform 1975 ein Konsens-Werk. Viele Hoffnungen wurden inzwischen enttäuscht.

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So schwierig und widerspruchsvoll der Prozeß des Um-denkens der Öffentlichkeit in der Haltung gegenüber Rechtsbrechern ist, so ist dieser Prozeß doch im Gang. Die Fortschritte sind nicht zu übersehen.

Man kann diesen Prozeß des Umdenkens, das die Grundlage für dauernden Fortschritt ist, verlangsamen. Zurückdrehen kann man ihn nicht mehr.

Man remonstriert heute auch nicht direkt und offen gegen die Grundsätze der Strafrechtsreform, sondern versucht, ihre Be-

Stimmungen zu unterlaufen oder den Geist des Strafgesetzbuches (StGB) in sein Gegenteil zu verkehren, soweit dies möglich ist. Auch das ist schon (fast) ein Fortschritt gegenüber den Verhältnissen vor der Strafrechtsreform.

Keinen Erfolg hatte die Strafrechtsreform bisher bei der Senkung der Gefangenenzahl in ihrer Gesamtheit. Die Ursachen liegen offenbar darin, daß die Auswirkungen der Zurückdrängung der kurzfristigen Freiheitsstrafe durch die Steigerung der mittel-und langfristigen Freiheitsstrafe überkompensiert wurden.

Hinzu kommen die Scheu vor der Anwendung der Rechtseinrichtung der bedingten Entlassung in einem vernünftigen Ausmaß im Sinne des Gesetzgebers

und die überlange Dauer der Untersuchungshaft.

Daß Österreich mit 114 Häftlingen pro 100.000 Einwohner — nach der Türkei — an der Spitze der Mitgliedsstaaten des Europarates liegt,istunerträglich.

An gesetzgeberischen Maßnahmen zur Senkung des Häftlingsstandes bieten sich an:

• Die Voraussetzungen für die Straflosigkeit mangels Strafwürdigkeit der Tat (Paragraph 42 StGB) sollten erweitert werden. Die Erweiterung könnte in zweierlei Richtung erfolgen:

In den Kreis der Delikte, auf die Paragraph 42 StGB Anwendung finden könnte, wären auch jene einzubeziehen, die mit nicht mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, statt der Höchstgrenze von einem Jahr Freiheitsstrafe wie im geltenden Recht.

Ebenso wäre zu überlegen, ob als Voraussetzung der Straflosigkeit die Bestimmung, daß „die Tat keine oder nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen hat", nicht - zumindest bei Schadensgutma-chung—entfallen könnte.

Wahrscheinlich geht es hier weniger um die zahlenmäßigen Auswirkungen, sondern um den Geist der Strafrechtspflege.

• Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, um der bisher wichtigsten Alternative zur Freiheitsstrafe — der Geldstrafe — auch den Bereich der mittleren Kriminalität zu erschließen.

• Die „Ersatzfreiheitsstrafe" ist raschestens aus 'der Rechtsordnung zu eliminieren. Bei der Dis-

kussion über die Beseitigung der Ersatzfreiheitsstrafe kann zum Beispiel auch jener Vorschlag dienen, der niemals Gesetzeskraft erlangt hat. Der Paragraph 28 (1) des Strafgesetzentwurfes von 1912 lautete:

„Das Gericht kann dem Verurteilten gestatten, eine Geldstrafe oder einen Teilbetrag, die nicht eingebracht werden können, durch freie Arbeit für den Staat, ein Land, einen Bezirk oder eine Gemeinde zu tilgen, wenn zur Zeit des Ansuchens Gelegenheit zu solchen Arbeiten vorhanden ist. Die Strafe ist getilgt, wenn der übliche Preis der geleisteten Arbeit den Beträgen der Geldstrafe gleichkommt."

Eine gute Kriminalpolitik ist in erster Linie Sozialpolitik. Vielen Formen der Kriminalität wird der Nährboden entzogen, wenn man gesellschaftliche Verhältnisse schafft, die der sozialen Gerechtigkeit näherkommen und wenn man die Menschen zu menschlicher Solidarität erzieht.

Eine Gesellschaft, die auf Aggressivität und Rücksichtslosigkeit angelegt ist, bildet den sozialen Untergrund für eine sich immer wieder erneuernde Kriminalität. Auch deshalb dürfen wir in unserem Willen, eine menschliche Gesellschaft zu schaffen, nicht erlahmen.

Zusammenfassend ist zu sagen: Die zentrale Frage des österreichischen Strafrechts in der nächsten Zukunft wird das Problem der Entwicklung weiterer Alternativen zur Freiheitsstrafe sein.

Daran wird kein Weg vorbeiführen.

Wenn es nicht gelingt, die Uberfüllung der österreichischen Gefängnisse rasch erfolgreich zu bekämpfen, wird der Freiheitsentzug in noch geringerem Maß seine Aufgaben erfüllen, als es ohnedies schon der Fall ist.

Für zukunftsweisend halte ich die erfolgreichen Bemühungen der Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte, die seit einiger Zeit auf Initiative von Präsident Udo Jesionek vom Jugendgerichtshof Wien unternommen werden, um bei jugendlichen Rechtsbrechern Konfliktlösungsmodelle statt Bestrafung mit allen schädlichen Folgen zu entwickeln.

Diese Bemühungen erfolgen im Rahmen des geltenden Rechts. Umso wichtiger wären aber endlich die parlamentarische Beratung und Verabschiedung des Jugendgerichtsgesetzes, das neue Alternativen zur Strafe möglich machen wird.

Die Strafrechtsreform hat vor allem auf folgenden Grundsätzen

aufgebaut: Rationaler Rechtsgüterschutz, Zurückdrängung der Freiheitsstrafe und bessere Voraussetzungen für die Resozialisierung des Rechtsbrechers und schließlich das Bekenntnis zu den unteilbaren Menschenrechten.

Deshalb sind untrennbare Bestandteile der Strafrechtsreform: die Reform des Strafverfahrensrechtes, die weitere innere Reform des Strafvollzuges, vor allem durch Ausbau und Einrichtungen des offenen und halboffenen Vollzuges und durch die Beseitigung der Ersatzfreiheitsstrafe und die Beseitigung des Primärarrests und der Ersatzfreiheitsstrafe im Verwaltungsrecht.

Das alles sind Gebote, die uns die Europäische Menschenrechtskonvention zur Befolgung auferlegt. In diesem Sinn sollte die Arbeit weitergehen; im Geiste der Strafrechtsreform - und über sie hinaus.

Der Autor ist Bundesminister für Justiz a. D. Der Beitrag ist ein Auszug eines Referats zum Thema „Bilanz der Strafrechtsreform" auf Einladung des Vereins für Bewährungshilfe und Soziale Arbeit in Wien.

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