Tiefe Spuren des globalen Wandels

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Ob gerade ein neues Erdzeitalter heraufdämmert, ist geologisch noch umstritten. Doch das Anthropozän ist ohnehin nicht mehr wegzudenken.

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Ob gerade ein neues Erdzeitalter heraufdämmert, ist geologisch noch umstritten. Doch das Anthropozän ist ohnehin nicht mehr wegzudenken.

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Mikroplastik ist heute auch an den entlegensten Orten zu finden -im Gletschereis ebenso wie in der Tiefsee. Auch am "Pol der Unerreichbarkeit" wurden nun kleine Plastikteilchen gefunden: Das ist jene Stelle im südlichen Pazifik, die am weitesten von der nächsten Küste entfernt ist. Zwei Jachten einer Segelregatta des Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel haben sich aufgemacht, um die Verteilung von Mikroplastik im Meer zu untersuchen; auch in Regionen, in denen bisher nicht danach gefahndet wurde. Die Auswertung der Forscher zeigte, dass auch der einsamste Ort der Welt nicht von der Plastikverschmutzung verschont geblieben ist.

"Weltweit werden pro Jahr rund 300 Millionen Tonnen an Plastik produziert", so der Geologe Michael Wagreich von der Universität Wien. "Seit den 1950er-Jahren ist die Gesamtproduktion mit mehr als fünf Milliarden Tonnen groß genug, um den gesamten Planeten in eine handelsübliche Plastik-Haushaltsfolie einzuwickeln." Die Spuren dieses gigantischen Plastikverbrauchs finden sich bereits in der Erde, den Flussbetten und der Meerestiefe. Sie sind es, die den Wiener Wissenschafter interessieren, denn Plastik ist "ein hervorragendes geologisches Signal für das Anthropozän", wie Wagreich sagt. Und das Anthropozän ist derzeit in aller Munde: "Am Beispiel dieses neuen, vom Menschen beeinflussten Erdzeitalters sehen wir, dass die Folgen menschlicher Eingriffe in das System Erde längst in den geologischen Ablagerungen archiviert sind. Für mich bedeutet das auch eine Unumkehrbarkeit des globalen Wandels", bemerkte Wagreich beim "Forum Anthropozän", einer mehrtägigen Konferenz, die Ende Juni erstmals in Großkirchheim am Großglockner stattgefunden hat.

Zahlreiche Symptome

Der Begriff "Anthropozän" ist heute zum Zauberwort für das künftige Schicksal des Planeten geworden, und er ist verbunden mit einer Reihe von tiefgehenden Fragen: Kann man heute tatsächlich schon von einer neuen Epoche der Erdgeschichte sprechen? Welche Konsequenzen hätte ein "Zeitalter des Menschen"? Und ist das Verhältnis von Mensch und Natur nun von Grund auf neu zu denken? Streng genommen handelt es sich beim Anthropozän noch um eine Verdachtsdiagnose: Sie geht von der Beobachtung aus, dass die Oberfläche der Erde, und damit auch die Lebensbedingungen für Flora und Fauna, durch menschliches Handeln global rasant und in großem Stil verändert werden. Der Begriff wurde Anfang des 21. Jahrhunderts vom Chemie-Nobelpreisträger Paul J. Crutzen populär gemacht. Der niederländische Meteorologe wollte damit klar machen, dass menschliche Aktivitäten die Erde heute schon zumindest ebenso sehr verändern wie einst Meteoriteneinschläge, Sintfluten, Vulkanausbrüche oder andere Naturereignisse. In ähnlicher Absicht, nur zwei Jahrzehnte vorher, hatte bereits der amerikanische Süßwasserforscher Eugene Stoermer vom Anthropozän gesprochen, um deutlich zu machen, dass die Menschen nunmehr nie da gewesene Spuren auf ihrem Planeten hinterlassen.

Nicht nur Plastik gilt als Schlüsselsignal für ein neues Erdzeitalter; auch andere Materialien haben sich gleichsam als "Techno-Fossilien" in der Umwelt und den Gesteinsschichten abgelagert: etwa Beton, das weltweit in riesigen Mengen produziert wird (ca. ein Kilogramm für jeden Quadratmeter des Planeten), oder Aluminium, das ausreichen würde, um ganze Kontinente in Alufolie zu verhüllen. Zudem gibt es chemische Signale des Anthropozän, etwa Treibhausgase, radioaktiven Niederschlag oder die Änderungen im Kohlenstoff-, Phosphor-und Stickstoffkreislauf. Hinzu kommen die menschlichen Einflüsse auf die Biosphäre, u. a. bedingt durch Artensterben, intensive Viehzucht oder Genmanipulation. Und erstmals in der Erdgeschichte wird das Klima vom Menschen beeinflusst.

Die "große Beschleunigung"

"Viele der menschengemachten Veränderungen wie der Klimawandel sind langfristig und nicht reversibel", gibt Michael Wagreich zu bedenken. "All das deutet darauf hin, dass das System Erde über den ausgeglichenen Zustand des Holozäns hinausgeraten ist." Das Holozän hat vor ca. 11.500 Jahren mit dem Rückzug der Gletscher begonnen. Es ist der letzte Teil des jüngsten Erdzeitalters (Quartär), das vor ca. 1,8 Millionen Jahren eingesetzt hat. Es geht hier also um gewaltige Zeitdimensionen und eine entsprechend gewichtige Frage: Ist das Anthropozän nun Fakt oder Fiktion? Ein geologisch haltbarer Begriff oder nur ein populärwissenschaftliches Konzept? Damit beschäftigt sich die Anthropozän-Arbeitsgruppe (AWG) der Internationalen Kommission für Stratigraphie, die die Einteilung der Erdgeschichte nach streng wissenschaftlichen Kriterien vornimmt. Um den Beginn eines neuen Erdzeitalters zu markieren, braucht man ein global messbares Signal bzw. physische Punkte, wo man den Ablauf der geologischen Ablagerungen deutlich erkennen kann -so wie im Kalkstein des Tiroler Kuhjoch, wo sich der Beginn der Jura (die Blütezeit der Dinosaurier) nachvollziehen lässt. Im September ist ein Treffen der AWG am Max Planck Institut für Chemie in Mainz geplant, wo das Anthropozän erhärtet werden könnte.

Vieles spricht dafür, dass der Beginn des neuen Zeitalters mit Mitte des 20. Jahrhunderts angesetzt werden könnte. Das war die Zeit der "Großen Beschleunigung", wo die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf den Planeten rasant zugenommen haben: Steigende CO2-Emissionen, Kernwaffentests, Massenmotorisierung und die durch billige Energie angetriebene Entwicklung einer Konsumgesellschaft kennzeichnen diesen epochalen Umbruch. Eher skeptisch zeigt sich jedoch Christian Köberl, Generaldirektor des Naturhistorischen Museum Wien und Mitglied der Kommission für Geowissenschaften an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: "Geologisch verschwindet selbst die Radioaktivität, die sich durch die vielen Kernwaffentests im Kalten Krieg in den Gesteinen niedergeschlagen hat, nach nicht allzu langer Zeit, und ob sich Plastik als dauerhaftes Leitfossil hält, ist ebenso fragwürdig", sagte er zu APA Science.

Kulturelle Imagination

Das ändert nichts daran, dass das Anthropozän längst nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs verankert, sondern auch in der kulturellen Imagination angekommen ist. In der Kunst, den Kulturund Geisteswissenschaften hat der Begriff derzeit Hochkonjunktur. Vielleicht hat das etwas mit dem zwiespältigen Schauer der Angstlust zu tun: "Wir haben das Gefühl, dass wir auf eine schleichende, aber katastrophische Umwälzung des gesamten Lebenssystems der Erde zulaufen", erklärt sich die Kulturwissenschafterin Eva Horn den regelrechten Pop-Charakter des Phänomens. Die Autorin von "Zukunft als Katastrophe" (Fischer, 2014) arbeitet derzeit an einer Einführung ins Anthropozän und an einer Kulturtheorie des Klimas.

Doch Anthropozän bedeutet nicht nur Plastikberge, abgeholzte Wälder, Atommüll oder anderweitig verseuchte Landstriche. Es bedeutet ebenso zivilisatorischen, gesellschaftlichen und technologischen Fortschritt, denn tiefgehende Eingriffe in die Natur können auch nachhaltig zum Wohl des Menschen und anderer Lebewesen beitragen. Es gilt also, Verantwortung zu übernehmen. Aus einer erdgeschichtlichen Perspektive hat dieser Planet schließlich schon viele Arten kommen und gehen sehen. Es wäre fatal zu glauben, dass dies der Spezies Mensch nicht passieren könnte.

FORUM ANTHROPOZÄN

Krisen und Chancen

Wer sich das Anthropozän zum Leitthema macht, muss nicht unbedingt nur die Summe aller Umweltprobleme beleuchten, sondern kann auch die Chancen und Potenziale für eine bewusste Gestaltung des Planeten in den Fokus rücken. Dies war das Anliegen des "Forum Anthropozän", das Ende Juni vor der beeindruckenden Kulisse des Nationalparks Hohe Tauern über die Bühne gegangen ist. Vorträge, Workshops und eine Podiumsdiskussion widmeten sich verschiedenen Aspekten des neuen Erdzeitalters, von der Wissenschaft bis zur Kunst und Spiritualität."Wenn die Menschheit weiter wirtschaftet wie in den letzten hundert Jahren, beschädigt sie die Natur und damit die eigene Existenzgrundlage unwiderruflich", so Peter Granig, Rektor der Fachhochschule Kärnten. "Innovation kann einen wertvollen Beitrag zur nachhaltigen Koexistenz von Mensch und Natur leisten." Im Laufe seiner Entwicklung habe sich der Mensch als ursprünglich Abhängiger von der Natur in die Lage gebracht, sich die Natur "untertan zu machen", wie Horst Peter Groß, Präsident des Universitäts.Club, Wissenschaftsverein Kärnten, betonte. Heute gelte es, das "Natur-Erlebnis" als Inspirations-, Innovations-und Regenerationsquelle wieder zu entdecken. "Das Anthropozän ist unter diesem Blickwinkel weniger eine technologische, sondern vielmehr eine gesellschaftspolitische Herausforderung." (mt)

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