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Fair play

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Noch trennt uns fast ein Jahr von der Frist der Neuwahl der Volksvertretung unseres Landes und doch will es scheinen, daß mit jedem Tag dieses Ereignis seinen Schatten mehr und mehr auf die Erscheinungen des politischen Lebens unseres Landes wirft. War die Wahl des Jahres 1945 zunächst eine Bestätigung des Lebenswillens Österreichs vor der Welt und ein Bekenntnis zur Demokratie nadi Jahren der Omnipotenz des totalen Staatsgedankens, so kommt den künftigen’ Wahlen eine erhöhte Bedeutung zu. Im November 1945 konnte die aufmerksame Weltöffentlichkeit aus der ruhigen Art der Durchführung der österreichischen Wahlen, aus dem Ergebnis der Abstimmung die Struktur der politischen Kräfteverteilung im Lande ablesen und erstaunt feststellen, daß ein gesunder Konservativismus trotz der vorangegangenen Periode die Kräfteverteilung, wie sie sich 1932 abzeichnete, unverändert geblieben war. Die Massen der Arbeiter, Bauern und Bürger folgten den Anschauungen ihrer Parteien, aber über allem stand die Notwendigkeit, den noch aus tausend Wunden blutenden Staatskörper zunächst lebensfähig zu machen. Das österreichische Volk legte damals eine erstaunliche Reifeprüfung in einer Notzeit ohnegleichen ab, und unter der Parole der Konzentration aller Kräfte, unter Hintanstellung der grundsätzlichen Parteiengegensätze, wurde die erste freigewählte Regierung gebildet.

Seither hat sich vieles in unserem Gemeinwesen und in der Welt geändert. Wenn auch der ersehnte Staatsvertrag nicht Wirklichkeit wurde, so befindet sich Österreich wirtschaftlich und politisch in einem Zustand der Festigung, die man noch vor einer Jahr nicht für möglich hielt. In einer solchen Lage gewinnt der Kampf der Parteien um die Zustimmung der Wählermassen erhöhte Bedeutung, weil nun Können und Leistung in der abgelaufenen Epoche klar vor den Augen des Volkes erscheinen und nicht wie 1945 die Abgabe der Stimme sozusagen auf Vorschuß oder in Erinnerung an die Vergangenheit erfolgen wird. Dazu kommt noch, daß eine beträchtliche Masse an Neuwählern und deren Gewinnung und Mobilisierung den Parteiarolen nach der Struktur der Herkunft dieser Massen eine besondere Note geben wird. Audi ist es offenkundig, daß in der Zusammensetzung der Kandidaten für die Volksvertretung in allen Lagern neue Persönlichkeiten auftreten werden, da die Härte der Zeit viele verbrauchte, die 1945 oft ohne Rücksidit auf Gesundheit und persönliches Wohl ihre Kraft dem Staate zur Verfügung stellten.

Es wird also ein Messen der Kräfte der Parteien werden, die alle Argumente, Versprechungen und Tatsachen ins Treffen führen werden, um zu überzeugen. Dies entspridit durchaus den Regeln des freien Kräftespiels der Demokratie. Es wird sicher mit allen Mitteln der modernen Propagandatechnik gearbeitet werden, und schon jetzt sind die Wahlfachmänner aller Parteien bemüht, durch verschiedene Untersuchungen sozusagen die psychologisch verwundbarsten Stellen der Wählermassen abzutasten. Doch über dem rein Technischen und Äußerlichen dieses Kampfes steht für alle Parteien und Politiker noch eines: die Verantwortung dafür, daß die Heimat dadurch keinen Schaden leide, daß immer wieder das Wohl des Staates letztes Ziel und höchster Wert bleibe! Wir alle sind durch Geschichte und Herkunft Österreich zugehörig, wir rühmen uns täglich der in Europa so seltenen Lebensform der Toleranz und der Mäßigung, unserer Mittlerrolle und einmaligen Stellung zwischen den Kräftepolen. Gerade in der not-wendigen Auseinandersetzung können wir in der Art, wie der Wahlkampf geführt werden wird, beweisen, daß wir nicht nur über unsere Eigenschaften reden und zu schreiben verstehen, sondern daß wir sie auch vorzuleben wissen. Vergessen wir, nicht, daß den Politikern gerade in diesen kommenden Monaten eine schwere erzieherische Aufgabe zukommen wird: große Teile der Bevölkerung sind der Politik müde oder haben noch nie die Demokratie in ihrer wahren Funktion erlebt. Unter ihrem kritischen Blick gilt es zu bestehen und damit den einzelnen Staatsbürgern die unabdingbare Forderung der Verantwortung für das Gemeinwohl vor Augen zu führen. Dies wird wohl am besten durch: ein echtes „fair play“ im Wahlkampf erreicht werden, bei dem jedes persönliche Haßmoment ausscheiden muß und man nicht immer auf schicksalsbedingte Wunden der Vergangenheit hinweisen darf. Nicht wer am radikalsten unerfüllbare Parolen in die Masse wirft, wird vor den Augen der sehr nüchternen Nachkriegsgeneration Erfolg haben, sondern nur wer durch sachliche Argumente überzeugt. Vielleicht wäre es möglich, den Beginn des eigentlichen Wahlkampfes möglichst spät anzusetzen und nicht schon jetzt jede kleinste verwaltungsmäßige Entscheidung mit der Elle des Wahlärithmetikers zu messen. Audi erscheint zu häufig die „Erringung der Macht im Staat" in den Reden der Politiker, ein Begriff, der im Vokabular der wahren Demokratie nicht aufscheint. Auch bei Mehrheitsentscheidungen kann die Macht im staatlichen Leben auf die Meinung der Minderheit nie verzichten, ja sie muß sich sogar ihrer als kontrollierenden Faktor stets zu bedienen wissen. Das Beispiel des englischen Parlaments, das mit Recht als die Mutter aller europäischen Demokratien angesprochen wird, zeigte uns in den vergangenen Jahren allzu deutlich, wie die Opposition in den vitalen Fragen des Landes einmütig hinter der jeweiligen Regierung stand. Ist nicht der würdevolle Abgang des durch den Rubin des Sieges geschmückten Churchill vor der Entscheidung des Volkes ein un- auslöschbares Beispiel für wahre Demokratie gewesen?

Audi nach der Bildung des neuen Nationalrates wird unser Österreich vor schweren Problemen stehen. Alle, die durch Weltanschau ungeri und den politischen Tageskampf getrennt sind, werden sich auf der höheren Ebene der Verantwortung und Zusammenarbeit wieder finden müssen. Ohne Bitterkeit, nur unter Hinblick auf die noch zu leistende Arbeit, müssen dann alle, denen Österreich Verjfflichtung und Aufgabe ist, wieder zusammenstehen. Deshalb darf durch den Wahlkampf keine Kluft aut- gerissen werden. Vergessen wir nie, daß sich unser politisches Leben und dessen Entscheidungen unter den aufmerksamen Augen der demokratischen Welt vollziehen, die aus der Form, der Harmonie und den Dissonanzen dieses Kampfes ihre gewichtigen Schlüsse ziehen wird.

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