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Das musikalische Volksdrama "Boris Godunow" in der Wiener Staatsoper.

Ein machtbewusster Herrscher, der Widersacher mit dem Vierteilen bedroht, ein liebender Vater, der Gott um Schutz für seine Kinder anfleht, ein von Schuldgefühlen in den Wahnsinn Getriebener: All diesen Facetten einer zerrissenen, geistig verfallenden Persönlichkeit muss Ferruccio Furlanetto in der Titelpartie von Modest Mussorgskis musikalischem Volksdrama Boris Godunow Ausdruck verleihen. Diese Tour de force meistert der italienische Bassbariton bravourös, so dass ihm das Publikum bei der jüngsten Premiere an der Wiener Staatsoper verdientermaßen zu Füßen lag.

Aber nur ihm. Denn obwohl sich an der Aufführung wenig aussetzen lässt, hat sie sich nicht in das Herz des Publikums gespielt. Unmittelbar nach Ende der Oper trat Furlanetto allein vor den Vorhang, um die verdienten Ovationen entgegen zu nehmen. Kaum war er wieder verschwunden, drohte der Applaus auch schon zu verebben - noch bevor sich auch nur einer der anderen Künstler verbeugt hatte. Die kühle Aufnahme dürfte an der von Dirigent Daniele Gatti eigens für Wien erarbeiteten Fassung der Oper liegen.

Eine Fassung mehr

Die Geschichte vom Fall eines russischen Zaren liegt nämlich in zahlreichen Versionen vor. Das spröde, in vielerlei Hinsicht das 20. Jahrhundert vorweg nehmende Werk eroberte die Bühnen erst in einer wirkungsvollen Bearbeitung von Nikolai Rimski-Korsakow, die den Hörgewohnheiten des 19. Jahrhunderts Rechnung trug. Heute hingegen herrscht die Maxime: Rückkehr zum Original. Das jedoch ist im Falle von Boris Godunow eine verzwickte Angelegenheit.

Die Urfassung der Oper aus dem Jahr 1869 wurde aufgrund ihrer musikalischen Eigenwilligkeit und wegen dem Fehlen einer weiblichen Hauptrolle vom Theater in St. Petersburg abgelehnt. Daher arbeitete Mussorgski die Oper um: Für die Fassung von 1872 komponierte er einen neuen, in Polen spielenden Akt, in dem Boris' Widersacher Grigori und seine künftige Gemahlin Marina im Mittelpunkt stehen. Weiters ersetzte er eine Szene, in der das hungernde Volk vor der Basilius-Kathedrale auf den wankenden Zaren wartet, durch eine andere, in der dem aufständischen Volk der neue Herrscher erscheint.

Beide Fassungen sind Meisterwerke und können ohne jede Änderung aufgeführt werden. Doch wenn man sich für die Urfassung entscheidet, muss man auf den Polenakt und die Basiliusszene verzichten. Entscheidet man sich für die Fassung von 1872, geht die Revolutionsszene verloren. Also hat Daniele Gatti eine Mischfassung erstellt, ein "Best of", in der aus beiden Versionen die jeweils stärksten Abschnitte enthalten sind. Die gestrichenen Stellen, etwa das Lied der Wirtin (Janina Baechle), bedienten lediglich "folkloristischen Selbstzweck", heißt es.

Verknüpfungen

Diese "Wiener Fassung" ist logisch und stringent - aber trifft offenbar nicht den Nerv des Publikums. Dabei gelingt es Gatti an der Spitze des Staatsopernorchesters - vulgo Wiener Philharmoniker -, die so verschiedenen musikalischen Grundstimmungen der lose miteinander verknüpften Szenen meisterhaft zum Leben zu erwecken: von der pompösen Krönungsszene, bei der Glocken mit ihren disharmonischen Obertönen einen bedrohlichen Schatten suggerieren, bis hin zur berührenden Sterbeszene, in der ein gebrochener Mensch Vergebung findet.

Stimmlich ausgezeichnet, aber szenisch nicht optimal geführt, verkörpert der Chor (Leitung: Thomas Lang) als russisches Volk den wahren Antagonisten Boris Godunows. Neben dem überragenden Furlanetto in seiner die Oper beherrschenden Partie behaupten müssen sich Robert Holl als charismatischer Chronist Pimen, Ain Anger als lebenslustiger Mönch Warlaam, Falk Struckmann als sinistrer Jesuitenpater Rangoni, Nadia Krasteva als die polnische Lady Macbeth Marina, Marian Talaba als Usurpator Grigori/Dimitri und - mit viel, vielleicht zuviel Vibrato - Heinz Zednik als "Gottesnarr", wie die Partie des Blödsinnigen heute politisch korrekt genannt wird. Unauffällig - und das ist durchaus positiv gemeint - die Inszenierung von Yannis Kokkos, der die Parabel über Macht und Schuld in einer aus heutiger Sicht zeitlosen Vergangenheit ansiedelt.

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