6844169-1976_09_10.jpg
Digital In Arbeit

Muß man russisch singen können?

19451960198020002020

Mussorgskys musikalisches Volksdrama in neun Bildern nach Puschkin und dem russischen Historiker Karamsin sahen wir zuletzt vor einem Jahr anläßlich eines Gastspiels der Nationaloper Sofia: eine echte Ensembleaufführung von sehr hohem Niveau. So kann man also mit gültigen Maßstäben messen, denn dort ist, wie in Rußland, „Boris Godunow“ ein nationales Denkmal — aber ein sehr sorgfältig betreutes ...

19451960198020002020

Mussorgskys musikalisches Volksdrama in neun Bildern nach Puschkin und dem russischen Historiker Karamsin sahen wir zuletzt vor einem Jahr anläßlich eines Gastspiels der Nationaloper Sofia: eine echte Ensembleaufführung von sehr hohem Niveau. So kann man also mit gültigen Maßstäben messen, denn dort ist, wie in Rußland, „Boris Godunow“ ein nationales Denkmal — aber ein sehr sorgfältig betreutes ...

Werbung
Werbung
Werbung

Nun hat also auch die Wiener Staatsoper für ihr Repertoire wieder eine „große Oper“ mehr: mit 24 namentlich genannten Sängern, Volk, Bojaren, Strelizen, Wachen, Hauptleuten, Magnaten, polnischen Damen, Pilgern, Ballett und (Gum-poldskirchner) Kinderchor. — Im Ganzen kann man sagen: eine gelungene, sehens- und hörenswerte Neuinszenierung, an deren Erfolg Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner, Sänger, Chor und Orchester ihren wohlbemessenen Anteil haben.

Fast kam, unter Otto Schenks ordnender Hand, für den Premierenabend am vergangenen Samstag, trotz vielerlei Inkohärenz so etwas wie ein Ensemble zustande. Denn alle Hauptrollen und Nebenfiguren waren gut bis sehr gut besetzt, alle überragend natürlich Nicolai Ghxau-rov, ein international angesehener und bewährter Boris mit merkwürdig hellem, baritonalem Timbre, an diesem Abend nicht gerade umwerfend, aber doch eindrucksvoll. Neben und unter ihm, sehr beachtlich: Waldemar Kmentt als Schuiski, Wladimir Atlantow als falscher Di-mitri, Hans Helm als Geheimschreiber Pimen, Brigitte Fassbaenders kühle, aber optisch eindrucksvolle Marina, ebenso Juri Mazurok als Rangoni, komisch bis karikierend: Czerwenka und Nitsche als entlaufene Mönche sowie Margarita Lilo-wa als Schankwirtin. Wirklich rührend in Spiel und Ausdruck: Rohan-giz Yachmi in der Hosenrolle des Zarewitsch und die Boris-Tochter Sona Ghazarian.

Was die Volksmassen, Bojaren und Höflinge betrifft, war die Aufführung der Bulgaren vor einem Jahr statischer. Aber das ist für Otto Schenk zu langweilig. Bei ihm ist immer alles in Bewegung. — Dies ging, was den musikalischen Ablauf, sein Tempo und Temperament betrifft, leider nicht vom Dirigentenpult aus. An diesem stand der knapp 50jährige, in Lodz als Dirigent und Komponist ausgebildete Robert Sa-tanowski, der zwischen Posen, Hamburg, Zürich und Prag an verschiedenen Opernhäusern tätig war und in Polen als Spezialist für — Wagner gilt. Nun denn: aus dem Orchester schlugen keine Flammen, höchstens Funken. Aber er hatte Chor und Solisten gut in der Hand, und es ist ihm im Lauf des mehr als vierstündigen Abends nichts „passiert“.

Zum Schluß ein Wort zum Thema Originalsprache und die diversen Fassungen des 1870 bis 1874 komponierten „Boris“, der erst in der Instrumentierung durch Rimsky-Korsakow seit 1896, besonders aber seit der Neufassung von 1908 allge-

meinen Erfolg hatte: Rimsky hat von den 4245 Takten der Partitur seines Freundes Mussorgsky nicht weniger als 3580, also etwa 80 Prozent, geändert, das heißt instrumental „geglättet“. Aber er tat dies auch — und das ist viel gravierender — mit der Harmonik, die, ursprünglich auf den alten Kirchentonarten basierend — dem Dur-Moll-System untergeordnet wurden. Das gleiche tat er auch mit Mussorgskys eigenwilligen Rhythmen —- im' Sinn einer Einebnung in traditionelle Taktarten. — Man spielt Boris fast überall in dieser Fassung. Aber soll man, darf man es tun, seit es eine dem Original weitgehend angenäherte Bearbeitung von Schostakowitsch gibt?

Statt dieser Bearbeitung würden wir lieber auf die Originalsprache, das Russische, verzichten. Damit v/erden Solisten und Chor übermäßig belastet und spürbar vom

Eigentlichen der Partie abgelenkt. Denn in dem zwei Dutzend Sänger umfassenden Ensemble gab es nur zwei Russen, mehrere mit slawischen Namen, aber das bedeutet ja nicht, daß ihnen das Russische leicht fiele. So hörte man denn, trotz aller Anstrengung, ein undefinierbares slawisches Idiom, niemandem zur Freude und zum Nutzen. Wir wissen, wir hören es von allen Seiten: die Originalsprache ist heute Mode. Aber auf breiter Front möchten wir das aus bestimmten, sehr ausführlich zu erläuternden Gründen nur für das Italienische gelten lassen. Exempla docent. Was mag allein die (vorzügliche) Einstudierung der Chöre durch Norbert Baiatsch Zeit und Mühe gekostet haben ...

Ausstattung und Kostüme verdienen hohes Lob: ob vor dem öder im Kreml, im Saal oder im Schloßpark von Sandomir — das alles hatte Schneider-Siemssen ohne übermäßi-' gen Aufwand auf ein niederes Gerüst gestellt, also ein wenig verfremdet, und Leo Bei hat die vielen, vielen Gestalten geschmackvoll eingekleidet. — Beide erhielten Sonderapplaus. (Zu empfehlen wäre: die erste Pause des vierstündigen Stük-kes vorzuverlegen).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung