6835924-1975_14_10.jpg
Digital In Arbeit

Triumph von Werk und Wiedergabe

19451960198020002020

Noch während Mussorgsky um die Aufführung seines „Boris“ kämpfte, begann er, das Originalgenie des „Mächtigen Häufleins“ (etwa der Gruppe der Six in Paris zu vergleichen) mit einem neuen, noch anspruchsvolleren, noch umfangreicheren Werk: der Geschichte der Chowanschtschina, jener Gruppe von konservativen Bojaren unter Führung des Fürsten Iwan, die sich, gemeinsam mit den „Altgläubigen“, gegen die Reformen des jungen Zaren Pjotr (von den Bulgaren konsequent „Peter“ ausgesprochen) zur Wehr setzten. Mussorgsky plante ein überdimensionales „musikalisches Volksdrama“, in dem nicht nur der junge Zar Peter selbst auftreten sollte, sondern auch die Regentin Sophia; und eine Szene sollte in der deutschen Vorstadt Moskaus spielen, zu der Mussorgsky eine Musik im Stil Mozarts schreiben wollte...

19451960198020002020

Noch während Mussorgsky um die Aufführung seines „Boris“ kämpfte, begann er, das Originalgenie des „Mächtigen Häufleins“ (etwa der Gruppe der Six in Paris zu vergleichen) mit einem neuen, noch anspruchsvolleren, noch umfangreicheren Werk: der Geschichte der Chowanschtschina, jener Gruppe von konservativen Bojaren unter Führung des Fürsten Iwan, die sich, gemeinsam mit den „Altgläubigen“, gegen die Reformen des jungen Zaren Pjotr (von den Bulgaren konsequent „Peter“ ausgesprochen) zur Wehr setzten. Mussorgsky plante ein überdimensionales „musikalisches Volksdrama“, in dem nicht nur der junge Zar Peter selbst auftreten sollte, sondern auch die Regentin Sophia; und eine Szene sollte in der deutschen Vorstadt Moskaus spielen, zu der Mussorgsky eine Musik im Stil Mozarts schreiben wollte...

Werbung
Werbung
Werbung

Aber es kam weder zur Vollendung dieses Riesenwerkes — dem ein weiteres, die „Pugatschowtschina“, der Aufstand der Kosaken unter ihrem Hauptmann Jemeljan, folgen sollte. Und mit der Instrumentierung hat er gar nicht erst begonnen. Diese besorgte sein Freund und Verehrer Rimsky-Korsakow, und in seiner „Fassung“ wurden ja bis vor kurzem Mussorgskys historische Opern fast ausschließlich gespielt. — Nun hat sich aber, in jahrelanger Arbeit, Dmitri Schastokowitsch der Musik Mussorgskys angenommen und nach den von Paul Lamm 1931 edierten Klavierskizzen eine Riesenpartitur geschrieben, die 1960 in Leningrad uraufgeführt wurde. — Sie kommt, so dürfen wir wohl annehmen und glauben, den Intentionen Mussorgskys näher als die zwar sehr routinierte, aber ein wenig glättende Rimskys. (Die Erinnerung an die gutgemeinten Bearbeitungen einiger Symphonien Bruckners durch Schalk und Löwe taucht auf!)

Mit dem wirkungsvolleren, dramatischeren ü „Boris Godunow“ verglichen, ist die „Chowanschtschina“ das epischere, weniger spektakuläre Werk. Aber* sie ist „aus feinerem Holz“, die Partitur birst vor Einfällen und Melodien, hat großartige Soli, Ensembles und — vor allem — Chorsätze, wie kaum ein anderes Werk in der Operngeschichte. — Indem Mussorgsky der Sprachmelodie, dem Wort- und Satzrhythmus des Russischen genau folgt, steht er — zumindest mit diesem Werk — Janäcek näher als Tschaikowsky. (Eine Übersetzung beider „Originale“ ist ja fast unmöglich!) Aber für die Bulgaren, deren Sprache unter allen slawischen Idiomen dem Russischen am nächsten steht, ist das kein un-überwindbares Problem...

Wieder sahen wir, wie in „Boris“, schöne, zweckmäßige Bühnenbilder, prunkvolle Kostüme, diesmal von Waleri Lewenthai. Die ersteren meist in impressionistisch wirkenden Pastellfarben gehalten und mit ölkreide gemalt; die letzteren, soweit wir es burteilen können, historisch getreu, aber ohne falschen Flitter und ohne vermeidbare Verschwendung. Uberhaupt beeindruckt die Leistung des bulgarischen Ensembles durch seine Ehrlichkeit, Einfachheit, Natürlichkeit und Qualität. Das gilt in hohem Maße auch für das Orchester unter der Leitung von Atanas Margaritow, eines distinguierten Herrn in mittleren Jahren; in höchstem Maße aber von dem klangschönen, rein intonierenden und virtuosen Chor. Und zwar nicht nur von den berühmten bulgarischen Bässen, sondern auch von den Tenören und den Frauenstimmen — mit ihrer spezifischen (keineswegs unangenehmen) „Rauheit“, die aber plötzlich ins sehr Weiche und Lyrische umschlagen kann. Und auf der Bühne stehen prächtige Sänger-Schauspieler, von Boris Pokrowskl als Regisseur (Inszenierung) und Emil Boschnakow (Spielleitung — ein subtiler Unterschied!) vernünftig und zweckmäßig geführt. — Am eindrucksvollsten: Dimiter Petkow als Fürst Iwan Chowanski, Nicola Ghiuselew als Oberhaupt der Altgläubigen (im „Boris“ die Titelpartie singend), Stojan Popow als Bojar Schaklowiti, Bojka Kossewa als Altgläubige Marfa — und das sehr dezente Ballett (fast ein wenig zu brav in den erotisch aufgeladenen und zugleich verhaltenen persischen Tänzen des 4. Akts).

Im ganzen: eine überaus solide, fesselnde Aufführung, die unsere musikalische Landschaft um eine sehr wichtige, kaum bekannte Szenerie bereichert. — Bei einigen längeren Dialogen möchte man natürlich gerne ganz genau verstehen können, was da geredet und konspiriert wird. Hier wären, für ausländische Gastspiele jedenfalls, einige „Striche“ zu empfehlen. Aber auch dies Werk steht, wie Mussorgskys „Boris“, unter jenem Dekmalschutz, den wir unseren eigenen klassischen Werken so sehr wünschen ...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung