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Sehnsucht nach Europa?

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Der Zerfall der alten Sozialordnung in den Ostvölkern hat den Weg für eine Zwischenlösung in Form eines Staatssozialismus bereitet, der nichts anderes darstellt als eine milde Abart des Kollektivismus. Der Ubergang zu diesem in Europa völlig neuen System vollzieht sich jedoch keineswegs so rasch und ungehemmt, wie es manche Propheten voraussagten, vielmehr erlebt man heute das Schauspiel, daß sich zwischen dem rein kommunistischen Osten und den Ländern mit einer privatkapitalistischen Verfassung eine Zone bildet, deren Lebensart ein tschechischer Autor als „Sozialismus mit liberalen Partikeln“ bezeichnet hat. In dieser Zone sind die Träger des bürgerlichen Liberalismus durch den Krieg entweder kompromittiert oder als politische Faktoren fast gänzlich ausgeschaltet worden. In das Vakuum drängt nun das Ideengut des doktrinären Kommunismus von der einen und das eines europäischen Sozialismus von der anderen Seite. Beide Strömungen gingen ein Bündnis ein, um sich in der Macht zu teilen und eine gründliche Flurbereinigung vorzunehmen, damit eine Übersicht der brauchbaren Verbündeten und ihrer Stärke gewinnend- Bezeichnend für das Kompromiß ist die Taktik der Kommunisten, nirgends eine Monopolstellung zu beanspruchen, selbst nicht in Ländern wie Bulgarien und Jugoslawien, wo sie wenigstens eine Fiktion der Mehrparteienregierung aufrechterhalten. Der Ton liegt dabei auf dem Worte „Demokratie“ als Ausdruck des Willens der breiten Volksmassen, die mit der westlichen Demokratie zu identifizieren sie aber keineswegs bereit sind. Ihre, die „Volksdemokratie“, beruht zwar auf freien Wahlen, doch sind, wie die Erfahrung lehrt, die Aussichten dafür ungleich verteilt. Am ehesten kommt der Begriff der Freiheit dem Ideal noch in Völkern mit einem höherentwickelten sozialen Organismus nahe wie etwa bei den Tschechen, wo das Schwergewicht der Macht bei den Organisationen und nicht wie etwa auf dem Balkan, bei handelnden Personen liegt, in denen sich das Programm verkörpert. Obwohl die Ausgangsstellung für diese Entwicklung in jedem Lande eine andere war, führte sie doch in den letzten zwei Jahren zu einer überraschenden Einförmigkeit, die so weit geht, daß selbst gewisse politische Teilerscheinungen dieser Volksdemokratie eine starke Ähnlichkeit zeigen.

Außerordentlich kennzeichnend ist die Rolle, welche die Sozialdemokratie als traditionelle Verfechterin einer westlichen Demokratie in diesem Mechanismus spielt. Ihre Parteien nehmen in diesen Ländern eine Brückenstellung ein, die von dem östlichsten Extrem bis zu den Lagern der Mitte reicht, sind Verbindungsglied und Kitt, wie in Polen und Rumänien, oder Puffer, wie in der Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien. Die „Polnische Sozialistische Partei“ besitzt als älteste sozialistische Bewegung des Landes die besten Kader in der Arbeiterschaft und eine höhere Mitgliederzahl als die kommunistische „Polnische Arbeiterpartei“, jedoch auch nicht mehr Abgeordnete im Sejm wie diese, die sich durch Zuzug vornehmlich aus der Landbevölkerung erhält. Der Staatspräsident Boleslav Bierut kommt aus den Reihen der Kommunisten, der jetzige Ministerpräsident Josef Cyriankiewicz ist wie sein Vorgänger Osobka-Morawski Sozialist. In Fragen der Staatspolitik und der Wirtschaftslenkung besteht zwischen beiden Gruppen weitgehende Übereinstimmung, doch ist keine von ihnen zur Aufgabe der eigenen ideologischen Einstellung zugunsten des anderen Partners bereit, vielmehr bestrebt, durch einen zähen Kampf um die Ausbreitung der Organisation vorne zu bleiben, um die eigene Stellung in der „Volksdemokratie“ nicht zu gefährden.

Eine ähnliche Lage ergab sich in der Tschechoslowakei, wo die Kommunisten mit 38 Prozent der Wählerstimmen zwar zur relativ stärksten Partei aufstiegen und in ihrem Vorsitzenden den Ministerpräsidenten stellten, jedoch bei weitem nicht über die absolute Mehrheit verfügen. Sie drückten die Sozialdemokratie zur drittstärksten Partei mit 15,6 Prozent der Stimmen herab, doch hält diese zusammen mit den nahestehenden Volkssozialisten, die 23,6.Prozent der Stimmen erhielten, den Kommunisten die Waage. Inzwischen haben die Sozialisten, die in Fierlinger und Lauschmann tüchtige Staatsmänner besitzen, organisatorisch stark aufgeholt, und es gibt Beobachter, die für Neuwahlen im nächsten Frühjahr Überraschungen erwarten.

Auch in Rumänien sind die Sozialdemokraten mit 78 Abgeordneten ein wesentlicher Bestandteil des Regierungsblockes, der den Führer der Kleinbauernfront, Dr. Petre Groza, als Ministerpräsidenten stützt, obwohl dessen Partei nur 71 Mandate zählt. Sie besitzen nach eigenen Angaben heute schon mehr als 800.000 Mitglieder, sind also weitaus stärker als die Kommunisten mit ihren 500.000 eingeschriebenen Anhängern. Sie gleichen die Spannungen zwischen den 68 Abgeordneten der Kommunisten und der 72 Köpfe zählenden neoliberalen Fraktion des Außenministers Tatarescu aus und schufen sö eine Atmosphäre der politischen Toleranz und Fairneß in einem Lande, das als letztes der Oststaaten noch Monarchie istj Freilich sind sie selbst von inneren Gegensätzen nicht verschont geblieben, die aus der eigenartigen Vermittlerrolle erwachsen. Diese führten zum Ausschluß ihres früheren Vorsitzenden Constantin Petrescu, dem sie eine gegen die Einheitsfront mit den Kommunisten gerichtete Verbindung zur „Bourgeoisie jenseits der Barrikaden“, der Opposition um Dinu Bratianu und um den nimmermüden und stark im Volke verwurzelten Iuliu Maniu, vorwarfen.

Viel schwieriger ist ihre Aufgabe in Ungarn, wo sich der Mehrheitspartei der kleinen Landwirte* mit ursprünglich 222 Mandaten im Parlament 70 Kommunisten und 69 Sozialdemokraten entgegenstellten. In der Furcht, von der absoluten Mehrheit majorisiert zu werden, sind hier Sozialisten und Kommunisten enger aneinandergekettet als anderswo, und es fehlt deshalb auch nicht an dem gemeinsamen Versuch, den großen Koalitionspartner aufzusprengen und manövrierunfähig zu machen. Aber eben diese undemokratische Rolle, die hier der Sozialdemokratie aufgelastet wird, stellt sie selbst unter einen gefährlichen Druck — die Wirkungen zeigen sich bereits in ihrer Mitte, in der zwei nach verschiedenen Seiten strebende Richtungen sich abzeichnen.

Einem ähnlichen Drucke, diesmal von links, zeigte sich die bulgarische Sozialdemokratie nicht mehr gewachsen. Sie vermochte nicht, der von Legenden umsponnenen Gestalt des Kommunisten Georgi Dimi-trov eine eigene Persönlichkeit entgegenzusetzen und gab mit Ausnahme einer winzigen Gruppe den Kampf innerhalb der „Vaterländischen Front“ auf. So gehören im Sobranje mit 278 Kommunisten nur neun Sozialisten zur Regierungsmehrheit, während sich die übrigen Sozialdemokraten in einer augenblicklich recht undankbaren Opposition für ihre Überzeugung wehren. Immerhin beließ ihnen Dimitrov noch zwei Minister im Kabinett.

Ein ebenso bescheidenes Dasein führen ihre Genossen in Jugoslawien, in dem Parteien heute kaum in Erscheinung treten.

Trotzdem sind es gerade die Sozialisten dieser Länder, die sich mit Beharrlichkeit einem jeden Versuch der Kommunisten, sie aufzusaugen, widersetzen. Es ist eine sehr tiefe Ursache, die ihre Haltung bestimmt. Eine halb bewußte, halb aus dem Unterbewußtsein kommende Sehnsucht nach dem Europäischen läßt sie für ihre geistige Eigenständigkeit und eine Demokratie westlicher Art' kämpfen. Ein Tscheche, der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Vöjta Erban, hat diese Ideologie erst unlängst mit den Worten umschrieben: „Die Sozialisten, die immer die Träger der Verständigung zwischen eigenstaatlichen und unabhängigen Völkern waren, haben auch nach diesem Kriege ihre internationale Mission wieder aufgegriffen, zu deren Erfüllung auch die Pflege europäischer und weltumspannender Beziehungen gehört.“ Vielleicht ist diese Formulierung eine Erklärung der Tatsache, daß die mit wechselndem Glücke an der Führung der Oststaaten beteiligten Hinterbliebenen des klassischen Marxismus dem Aufgehen im Kommunismus widerstreben, um die Tore nach allen Himmelsrichtungen offen zu halten. Der Versuch ist löblich, aber mit großen Gefahren verbunden. In diesen Bündnissen mit dem Kommunismus ist der Radikalere immer im Vorsprung, und undankbar ist die Rolle des Zurückbleibenden, sosehr er sachlich im Rechte sein mag. Frankreich ist nicht das erste Beispiel.

Von den bäuerlichen und bürgerlichen Vertretern der europäischen Ostvölker sind bisher nur die Tastversuche für die Herstellung konstruktiver internationaler Beziehungen unternommen worden. Es fehlt ihnen aber noch an Kraft, weil die Unsicherheit der Anschauungen noch erheblich ist, die Organisationen selbst noch mit der jetzigen chaotischen Verfassung ihrer sozialen Schichten beschäftigt sind, und nicht zuletzt weil sie in der Furcht leben, sie könnten als Reaktionäre bezichtigt werden. Erst wenn'einmal die Kriegspsychose in diesen Zonen von der friedlichen Entspannung abgelöst sein wird, dann wird eine Bestandsaufnahme aller jener Kräfte möglich sein, deren geistiges Fundament noch immer Europa heißt. I. L.

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