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Ein Mahnmal verschwindet

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Sie gehört längst abgerissen. Die Synagoge - der Judentempel in der Rohrbacherstraße. Wer braucht den Tempel noch, denn Juden gibt's keine mehr in Neunkirchen. Außerdem verschandelt die Ruine unsere Stadt und die Trümmer vom Dach könnten jemanden erschlagen...

Ich steige über Ziegelhaufen zwischen den noch stehenden Außenmauern. Das Dach wurde gerade demoliert, doch schon lange vorher hatte man einen Ausblick auf den Himmel. Ein junger Mann, der beim Abbruch beschäftigt ist, kommt zu mir. Er erkennt mich — den Pfarrer von Neunkirchen — und sagt zu mir: Das muß sie irgendwie schmerzen. Er sagt es mir auf den Kopf zu. Dieser Arbeiter hat verstanden, warum ich der Ruine noch einen Besuch mache und was mich mit ihr verbindet.

Hier haben Menschen, jüdische Mitbürger, gebetet, Gottesdienste gefeiert und Freud und Leid vor den Ewigen gebracht. Übrigens war ihr Beten dem Beten Jesus und seiner Jünger sehr ähnlich. Unser Jesus hätte sich dort besser zurechtgefunden und heimischer gefühlt als in der Stadtpfarrkirche.

Um es ganz genau zu sagen: Juden haben sich hier fünfundfünfzig Jahre lang zum Gebet versammelt, von 1883 bis 1938 - bis zur „Reichskristallnacht". Damals wurde auch diese Synagoge geschändet und beschädigt, da gab's keine Ausnahme, denn die Organisation war perfekt. Viele andere Synagogen wurden angezündet und ganz zerstört. Die einfachen Formen dieses Historismusbaues haben selbst noch im ruinösen Zustand Schönheit ausgestrahlt. Ein Bau, der wie viele andere Synagogen der Monarchie als sichtbarer Ausdruck der den Juden 1867 gewährten juridischen Gleichstellung entstand.

Modell für den Synagogenbau in Neunkirchen war die Synagoge in Kobersdorf, denn zur dortigen Gemeinde hatten die Juden Neunkirchens besondere Beziehungen, stammten doch manche Familien aus dieser alten burgen-ländischen Judengemeinde. Die Kobersdorfer Synagoge wird der Nachwelt erhalten bleiben und von der burgenländischen Landesregierung restauriert. Jene in Neunkirchen stand leider nicht unter Denkmalschutz.

Viele Neunkirchner können sich noch an die unglücklichen Menschen mit dem gelben Judenstern erinnern. Während des Krieges waren jüdische Zwangsarbeiter aus Polen, Rumänien und Rußland in der Synagoge einquartiert. Sie mußten ein Zwischengeschoß einziehen und unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen. Ein Ehepaar aus Israel kam vor einigen Jahren nach Neunkirchen. Die Frau suchte nach ihrem Geburtsdatum, denn sie wurde hier von ihrer gefangenen Mutter geboren.

Das Mahnmal an eine böse Zeit — die für jüdische Menschen nicht bloß Krieg bedeutete, sondern organisierte Vernichtung — wird nun abgetragen. Wird eine Gedenktafel wenigstens an seine ehemalige Existenz erinnern? Schließlich geriet auch die erste Neunkirchner Synagoge in Vergessenheit. Die „Judenschul" stand beim heutigen Hotel „Zum Goldenen Löwen", bis im Jahre 1496 die Juden von Neunkirchen und Neustadt, damals zur Steiermark gehörig, vertrieben wurden. Nur der Simonikirtag in Neunkirchen erinnert noch an das Simoni-kircherl, in das die ehemalige Synagoge umgewandelt wurde. Diese Kirche wurde 1758 ein Opfer der großen Brandkatastrophe.

Eigentlich gehört die Synagoge, die jetzt abgetragen wird, der jüdischen Kultusgemeinde in Wien. Hätte die nicht schon vor Jahren für eine Restaurierung sorgen können? Hat man nicht solange gewartet bis es zu spät ist? Aber andererseits: Wie könnte eine Gemeinde, die heute bloß aus einigen tausend Mitgliedern besteht, noch dazu caritative Verpflichtungen großen Ausmaßes hat, die verfallenen Bauten in Niederösterreich und Burgenland wieder herstellen, wenn in diesen Orten selbst keine Juden mehr leben und hebräisches Beten verstummt ist?

Übrigens müssen 24 jüdische Friedhöfe in Niederösterreich erhalten werden, denn nach jüdischem Religionsgesetz gilt die Friedhofsdauer auf ewige Zeiten, sodaß Begräbnisstätten nie mehr profanen Zwecken dienen dürfen.

Ich steige über den Schutt und ziehe da und dort Fragmente hebräischer Bücher aus dem Staub: Gebetbücher, Gebete zum Sabbat, Gebete für die Verstorbenen, Bibeltexte zur wöchentlichen Lesung, Kommentarliteratur, die Ostererzählung (Pesach-Hagga-da). Und hier ein Gotteswort vom Propheten Ezechiel niedergeschrieben: „Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch zurück in das Land Israel". Der Buchstabe zerfällt zu Asche, der Geist aber bleibt. Das Volk des Buches lebt. Ich nehme den Bibeltext zu mir.

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