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Eine weitgehend desorientierte Kirchenführung

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Der 580 Seiten starke Band gibt einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Religiosität im Ungarn der letzten 40 Jahre. Das Werk beeinhaltet Forschungsergebnisse, die der bekannte ungarische Religionssoziologe Miklös Tomka zwischen 1969 und 1988 - mit wenigen Ausnahmen in ungarischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte.

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Der 580 Seiten starke Band gibt einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Religiosität im Ungarn der letzten 40 Jahre. Das Werk beeinhaltet Forschungsergebnisse, die der bekannte ungarische Religionssoziologe Miklös Tomka zwischen 1969 und 1988 - mit wenigen Ausnahmen in ungarischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte.

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Die Bestandsaufnahme weist ein überaus breites Spektrum auf und reicht von den Möglichkeiten der Religionsforschung, den Gegebenheiten der gesellschaftlichen und konfessionellen Struktur, der religiösen Situation im allgemeinen bis hin zu konkreten Messungen über Weltanschauung und religiöses Verhalten unter den Jugendlichen, der Rolle der Religion in der Familie, religiöse Praxis und vieles andere mehr.

Der Wert dieser Studie beruht vor allem auf der Tatsache, daß sie eine riesige Lücke füllt: Die Kirche verfügt seit dem Zweiten Weltkrieg über keine Institution, die Bestandsaufnahmen oder Messungen über die Religiosität der Bevölkerung durchgeführt hätte; was unter dem Einfluß des vom Atheismus geprägten Kommunismus eine weitgehende Desorientiertheit der Kirchenführung zur Folge haben mußte.

Forschung unter Gefahren Zwar hatte das Philosophische Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Ende der sechziger Jahre ein religionssoziologisches Forschungsprogramm begonnen, dann aber doch nicht gewagt, die Verantwortung für die Abweichungen zwischen den ideologischen Standpunkten und den durch die Forschung ermittelten Daten und Fakten zu übernehmen, und hatte die Religionsforschung wieder aus seinem Programm gestrichen. Einige wenige Religionsforscher - so auch Tomka - führten in der Folge, vielfach unter großen Schwierigkeiten und sogar Gefahren, auf eigene Verantwortung religionssoziologische Forschungen durch.

Es ist Tomka zu verdanken, daß

eine Reihe von Fragen allgemein fachlicher Art, aber auch spezifisch ungarischer Probleme geklärt werden konnten. So hatten zum Beispiel die offiziellen Stellen und Schriften bis dahin von zehn bis zwölf Prozent gläubigen Menschen im Lande gesprochen, wogegen die Religiosität der ungarischen Bevölkerung - wie Tomka nachwies -in Wirklichkeit mit 40 bis 50 Prozent anzusetzen ist. Seitdem werden sowohl in den kirchlichen als auch staatlichen Quellen die von Tomka ausgewiesenen Zahlen angegeben.

Weiters dokumentierte der Soziologe - im Gegensatz zur ideologisch gebundenen marxistischen Religionsforschung -, daß die Religiosität als bedeutender Persönlichkeits- und verhaltensformender Faktor zu werten ist und wies nach, daß Religiosität - ganz im Gegensatz zu der herkömmlichen marxistischen Auffassung - ein zu gesellschaftlich wertvollem Verhalten motivierender Faktor ist beziehungsweise sein kann.

Beachtung verdienen auch Tomkas Forschungen, durch die nachgewiesen wird, daß die in den Jahren 1978 bis 1980 innerhalb der Kirche Ungams registrierbare Entchristlichung nicht mit dem weltweiten Trend zur Entchristlichung erklärt werden kann; in Ungarn hat der Entchristlichungs-prozeß das in den westeuropäischen Ländern zu beobachtende Maß bei weitem überschritten und auch wesentlich rascher um sich gegriffen; in Ungarn hat dieser Prozeß spezifisch ungarische Ursachen, denen nach Meinung Tomkas gezielt entgegengewirkt werden müßte. Ab den achtziger Jahren hat die Religiosität - wie die Forschungsergebnisse zeigen - in Ungarn wieder zugenommen, womit auch jene These des Marxismus widerlegt wird, daß die Entchristlichung einen notwendigen, stetigen Prozeß darstelle.

Punkt für Neubeginn Die Tatsache, daß der Sammelband in deutscher Sprache herausgegeben wurde, ist auf den erfreulichen Umstand zurückzuführen, daß im deutschsprachigen Raum großes Interesse an der kirchlichen und religiösen Situation der kommunistischen Ära in den ehemaligen „Ostblock-Staaten", so auch in Ungarn, besteht.

In Ungarn ist das Werk von eminentem zeitgeschichtlichen Wert und deswegen von Interesse, weil es eine authentische Analyse und Dokumentation einer Epoche darstellt, in der vier Jahrzehnte hindurch mit den Methoden eines totalitären Staates und einer religionsfeindlichen Ideologie versucht wurde, ein durch tausend Jahre von christlicher Tradition geprägtes Land umzuwandeln. Eine derartige Dokumentation ist als Ausgangspunkt für einen Neubeginn unerläßlich. Darüber hinaus sind aber die von Tomka behandelten Themen, wie „Das Unbehagen der Jugend und die Religion", „Religiöse Sprache in religionsloser Gesellschaft" und andere mehr auch für die Lage von Religion und Kirche in Österreich und anderen Ländern Europas, die mehr und mehr vom Säkularisierungsprozeß beeinflußt werden, von zunehmender Bedeutung.

RELIGION UND KIRCHE IN UNGARN. Ergebnisse religionssoziologischer Forschung 1969 -1988. Von Miklös Tomka, Herausgegeben vom Ungarischen Kirchensoziologischen Institut und Institut für Kirchliche Sozialforschung, Wien 1990,580 Seiten, öS 196,-.

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