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versuch einer enteignung

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Wieder einmal droht Wertverminderung unseren Bücherkästen. Keine nur teilweise wie damals, als 1941 Hitler sinnigerweise und als 1945 die Alliierten naseweiserweise der deutschen Schreib- und Druckschrift ohne viel Aufhebens den Garaus machen wollten — mit dem Erfolg fre Uidi, daß die Hälfte unserer Bücherbestände nach geraumer Zeit mit schöner Sicherheit in den Koloniakübeln landen wird, weil unsere Kinder mit der Entzifferung des Ererbten nicht mehr zurechtkommen. Nein, diesmal soll gründlicher aufgeräumt werden, diesmal droht totale Bücherkonfiskation, die Kleinschreiber blasen aufs, neue zaųi Angriff. Gelänge der Sturm, unsere Bibliotheken, alle Stehsälze und vor allem die Kontinuität unserer Sprachkultur wären beim Teufel. Die Großschreibung deutscher Hauptwörter begann vereinzelt bereits im 12. Jahrhundert, wurde im 14. Jahrhundert häufiger und setzte sich durch, als Martin Luther von der Kleinschreibung seiner Bibelübersetzung des Jahres 1523 nach 1534 immer mehr und schließlich definitiv zur Großschreibung übergegangen war. Nach 1550 stehen Großbuchstaben nicht nur (wie seit dem frühen Mittelalter) am Anfang eines Absatzes, einer Strophe oder eines Eigennamens, nicht nur am VersbegiiHi (wie seit dem 14. Jahrhundert), sondern auch am Satzbeginn und vor der Mehrzahl aller Hauptwörter. Gottsched sah darin „einen merkliäien Vorzug der Grundriditigkeit unserer Schrift vor anderen". Sprache und Rechtschreibung wuchsen seither, einander bedingend, gemeinsam auf. Obwohl seit 1965 die gesamtdeutschen Bemühungen um eine Recht-schreibändenmg ruhen, weil angesichts der negativen Haltung öster-reidis und vor allem der Schweiz gegenüber der Kleinschreibung keine Übereinstimmung aUer deutsdi-spradiigen Staaten zu erwarten ist, soll der Rückschritt hinter Gottsched, hinter Luther und hinter das Hochmittflaiter . allen Ernstes und dieser in Wien neuerlich von einer spra iasaien Gruppe in Erwägung gezogen werden. Rechtschreibreformer wollen zwischen dem 22. imd dem 26. März in der Bundeshauptstadt Tag für Tag tagen, um mit Hilfe kleiner Buchstaben den gewachsenen deutschen Sprach’bau anzusägen und die Erfaßbarkeit geschriebener Sätze diurch unauflialt-same Rückkehr ins barbarisch Un-übersichtlidie zu reformieren — ohne allerdings, was nicht unoriginell erscheint, die amtliche „Kommission für Rechtschreibreform" von diesem Ansinnen verständigt zu haben. Anfragen beim Unterrichtsministerium ergaben denn audi, daß hinter der demnächst tagenden Tagung kein Ministerium, sondern ein Verein steht. Daß dieser Verein die österreidiische Akademie der Wis-sensdiaften einzuladen unterließ, wohl aber die Deutsche Akademie von Ost-Berlin einlud, macht das ganze Untemehmen nicht weniger merkwürdig. Denn: Wer hat es da mit wem und weshalb auf imsere Bücherkästen abgesehen?

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