6581856-1951_22_03.jpg
Digital In Arbeit

Frankreich an der Wegsdieide

Werbung
Werbung
Werbung

Nach einem halbjährigen Tauziehen zwischen der Regierung und den Parteien ist endlich unmittelbar vor Pfingsten mit der Erledigung der Wahlreform die Bahn frei geworden für die Ansage der allgemeinen Neuwahlen für die Nationalversammlung. Am dritten Junisonntag werden die Wähler Frankreichs zu den Ijrnen schreiten, und schon am 5. Juli wird das neugewählte Parlament zusammentreten. Wenn es nach dem Willen der Väter des neuen Wahlgesetzes geht, dann wird das neue Haus ein wesentlich anderes Gesicht zu zeigen haben als das jetzige, dessen Antlitz zerfurcht war von den Lebenserschwernissen, die der Kommunismus der gesetzgebenden Körperschaft und dem Staat auferlegte. Wird der Sinn dieser Wahlreform, den französischen Kommunismus von der Höhe seiner parlamentarischen Machtstellung herabzuzwingen, gelingen oder nicht? Man kann die Antwort mit um so größerer Spannung erwarten, als dem Wahlsystem nicht gerade nachgesagt werden kann, daß es seinem erstrebten Zweck nur verschämt zustrebe. Die Kämpfe um die Gestaltung des Wahlrechtes für Parlament und Gemeinden haben seit Kriegsende einen guten Teil der politischen Gefechte ausgemacht, und stets hat dabei der nüchternste Parteiegoismus der Stärkeren und zuweilen auch der Geschickteren den Ausschlag gegeben. Das für den Nichtfranzo-sen Auffallendste an dieser Wahlreform ist, daß sie zwei einander entgegengesetzte Systeme durcheinanderwirft, die einen Franzosen nach dem Prinzip der Mehrheitswahl Im ersten Wahlgang, die anderen auf Grund des Proporzes ihre Abgeordneten wählen läßt.

Nach dem zweiten Weltkrieg setzte sich auch in Frankreich das Verhältniswahlrecht durch und wurde zunächst die allgemeingültige Norm. Unter dem Wahlereignis, dem Ausgang der am 21. Oktober 1945 erfolgten Wahlen für die erste verfassunggebende Versammlung, erzitterte der Boden Frankreichs: als die stärkste Partei waren unter 522 Gewählten die Kommunisten und ihre Verbündeten mit 148 Mandaten hervorgegangen; als zweite Macht, eine völlige Neuerscheinung, war mit 141 Gewählten das MRP des Katholiken Bidault und seiner Freunde auf dem Plan erschienen, das sieben Monate später In den Wahlen für die zweite Konstituante sogar vorübergehend mit 160 Abgeordneten den ersten Platz einnahm. Indessen fielen die Sozialisten, die ja doch ein Führer von der Bedeutung Leon Blums befehligte, von den 134 Mandaten, die sie noch in der ersten verfassunggebenden Versammlung besaßen, in den Juniwahlen auf 116 und am 10. November 1946, also innerhalb elf Monaten, in den Wahlen für die Nationalversammlung auf 90 zurück, obwohl 22 Mandate mehr als in den Konstituantewahlen zu besetzen waren. Die Parteien der Mitte waren zurückgedrängt, vor allem die alte Staatspartei der Radikalen schien fast dem Erlöschen nahe zu sein. Sofort verschärfte sich zufolge dieser Veränderungen die Bewegung um General de Gaulle, zugleich erwachten aber auch Zweifel und sich verstärkende Einwände gegen die Richtigkeit des Weges, den man mit dem von de Gaulle eingerichteten, mit eher schädlichen als. nützlichen Einschränkungen versehenen Proporzwahlsystem beschritten hatte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung