Indem man einen prominenten Straftäter zum Ungeheuer macht, schiebt man das Problem Pädophilie aus der Mitte der Gesellschaft – so weit wie möglich von sich weg.
Daniela Strigl über die freiwillige Selbstentmannung an der Spitze des ORF, die munter weitergeht: Denn die neue Radiochefin denkt laut darüber nach, dass bei Ö1 „vielleicht nicht mehr alles“ geht, „was bisher gegangen ist“.
In Daniel Wissers jüngstem Roman „Wir bleiben noch“ findet sich eine Szene in einer Wiener Straßenbahn: Eine alte Dame ruft angesichts von drei Männern, die keine Anstalten machen, ihr einen Sitzplatz zu überlassen: „Gibt es denn heutzutage keine Kavaliere mehr?“ Worauf einer von ihnen meint: „Kavaliere gibt es schon noch, gnädige Frau, aber leider zu wenig Sitzplätze.“ Vielleicht war es diese hinterfotzige Spielart Wiener Kavaliertums, die mich während eines bahnstreikbedingt ausgedehnten Aufenthalts in Hamburg die hanseatische Höflichkeit schätzen lehrte. Überall in
Jan Böhmermann macht, was seine österreichischen Kollegen zurzeit nicht machen wollen oder dürfen, jedenfalls nicht im ORF: messerscharfes politisches Kabarett.
John F. Kennedys Appell an seine Landsleute wurde zum geflügelten Wort: „Ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country.“ Wem unter den Politikern unseres Landes würden Sie zutrauen, dass er nach dieser Maxime lebt und handelt? Auf Anhieb fällt mir nur einer ein – und der hat das politische Handwerk an den Nagel gehängt: Rudolf Anschober. Wenn es jemanden gibt, der sich seinem Amt und sein Amt einem Auftrag im Sinne der Volkswohlfahrt untergeordnet hat, dann war es der lange allseits akklamierte und zuletzt doch glücklose Gesundheitsminister. Er
Karl Kraus hätte heute einen schweren Stand. Er wusste, dass es die Satire mit Glacéhandschuhen und ohne Diskriminierung – also Unterscheidung ihrer Gegenstände – nicht gibt.
Der Mensch erträgt jegliche Unbill leichter, wenn er ihr einen Sinn zu verleihen vermag, und sei es nur der, ihm eine Lektion erteilt zu haben. Wir stecken noch mittendrin, aber schon wollen wir Lehren ziehen aus dem Ganzen. Einsicht wird angestrebt und dann, natürlich, Besserung. Religiöse Deutungsmodelle – die Seuche als „Geißel Gottes“ –, wie sie im Aids-Diskurs noch eine Rolle spielten, haben anscheinend ausgedient, tatsächlich erscheinen sie in neuem Gewand, als ökomoralische Selbstgeißelung. Die Kausalität von Schuld und Sühne bleibt erhalten, wenn die Fütterung
„Wer nichts weiß, muß alles glauben“ – diesen Slogan haben die „Science Busters“ der Ebner-Eschenbach gefladert. Jedenfalls habe ich meine anfängliche Corona-Informationsaskese mit immer akuter werdender Epidemiegesetzauslegung aufgegeben. Dabei misstraue ich keineswegs prinzipiell der Strategie unserer Regierung. Ich reagiere nur allergisch auf ihre Rhetorik und den paternalistischen Predigtton: „Alternativlos“ ist einem demokratischen Gemeinwesen grundsätzlich gar nichts. Wer auf die Straße geht, ist kein „Lebensgefährder“, und wer sein Handy nicht dem Roten Kreuz
Was ist in Zeiten der Krise notwendig, was ist überflüssig? Die aktuelle Lage bringt den Stellenwert der Kultur ans Licht, den sie in Wahrheit hat. Ein Kommentar von Daniela Strigl.
Woody Allens Autobiografie mit dem schönen Titel „Apropos of Nothing“ wird nun also, obwohl gedruckt, nicht erscheinen, weil Mitarbeiter und Autoren den Hachette-Verlag öffentlich unter Druck gesetzt haben. Die Initiative ging von Dylan Farrow, der gemeinsamen Adoptivtochter von Allen und Mia Farrow, aus, die 1992 in einem Sorgerechtsverfahren nach der Trennung der Eltern den Vorwurf des Missbrauchs gegen ihren Adoptivvater erhoben hatte. Die geplante Publikation seiner Memoiren sei „erschütternd“, meinte sie und warf dem Verlag „Komplizenschaft“ vor. Die Familie ist seit damals
Vor einigen Jahren hatte ich ein aufschlussreiches Gespräch über den Mohr im Hemd. (Nein, nicht über die Bezeichnung, sondern über die Sache, nicht über das Hemd, sondern über die Substanz.) Eine Wirts tochter erklärte mir, dass etwa neunzig Prozent der beliebten Nachspeise, wie sie in Gasthäusern angeboten wird, nicht hausgemacht sind, sondern industriell vorgefertigt. Beliebt ist der Mohr im Hemd auch bei den Gastronomen, weil er, billigst im Einkauf, eine fette Marge garantiert. Seither frage ich immer nach und sehe meistens von einer Bestellung ab. Wie ich der TV-Dokumentation
Ich stelle mir Andris Nelsons als einsamen Menschen vor. Andernfalls hätte es eine gute Seele gewiss zu verhindern gewusst, dass er das Neujahrskonzert im Pyjama dirigiert. Oder was immer das war. Schwarzer Samt mit Stehkragen, Schlabberlook, ein Mittelding aus Hausrock und Mao-Jacke, unter dem man offenkundig ohne Hemd auskommt; mit Schulterpolstern, die bei jedem, zum Dirigierhandwerk gehörenden Hochheben der Arme in die Höhe hüpfen. Um solche Pein für alle zu vermeiden, gibt es die Tradition. Sie sieht für den Mann am Pult tagsüber einen Cutaway vor oder allenfalls einen (ähnlich
"Es gibt kein Abendessen mehr ohne das Thema Peter Handke“, sagte der Germanist Klaus Kastberger unlängst in Ö1. Eigentlich wollte ich kein Wort mehr über Handke verlieren, denn es ist tatsächlich ein verlorenes Wort in einer Debatte, in der weltweit Tausende, unbelastet sowohl von Werkkenntnis als auch historischem Sachverstand, sich ganz dem Meinen und Verurteilen hingeben. Muss man sich wichtig machen, wo man es nicht ist, nur um etwas zu sagen und zu meinen, was schon Dutzende gesagt und gemeint haben? Mitunter spricht man, weil man die Dinge für sich selbst geklärt haben
Am Dienstag dieser Woche nahm Katja Gasser, Leiterin des Literaturressorts im ORF-Fernsehen, den Staatspreis für Literaturkritik in Empfang. Das ist insofern etwas Besonderes, als der Preis gewöhnlich für klassische, also schriftliche Kritik verliehen wird und Gassers Schwerpunkt naturgemäß auf Feature, Portrait und Interview liegt. Auf diesem Gebiet hat sie sich aber durch eine TV-unübliche Seriosität ausgezeichnet: Tatsächlich liest sie die Bücher, über die sie berichtet. Und sie tut es klug und anschaulich und mit Leidenschaft. Legendär ist nicht zuletzt die „sympathische
Nein, ich sage hier natürlich nichts über den Deutschen Buchpreis. Alles, was ein Jurymitglied darüber zu sagen hat, kann gegen es verwendet werden. Und gegen die gesamte Jury. So ziemlich jeder Kollege aus dem Feld der Kritik (es sind tatsächlich nur Kollegen) hätte alles anders, nämlich: besser gemacht als jene. Das liegt in der Natur der Sache und ihrer Betreiber: Kritiker sind naturgemäß kritische Geister und von Herzen unzufrieden, quasi job description. Und so wie der Teamchef damit leben muss, dass alle Beobachter vom virtuellen Spielfeldrand mehr vom Fußball verstehen als er,
Es gibt Theatererlebnisse, die man nicht mehr vergisst. Deren Luxus gerade in ihrer totalen Reduktion besteht. Luxus zum Beispiel ist, sich von Anne Bennent die komplette „Penthesilea“ vorlesen zu lassen. Obwohl – vorlesen kann man das nicht nennen: Es ist ein Deklamieren und Posaunen, ein Schreien und Schmeicheln, Höhnen und Tändeln, ein Durchdenken und Durchkosten der Kleist’schen Sätze in ihrer gnadenlosen Schärfe und Konsequenz. Nach und nach erhalten alle Charaktere ihre eigene Stimme, werden die wilden Szenen plastisch, wird das Lesen zum Spielen. Anne Bennent
Im Jahr 1993 fand im Kunsthaus Mürzzuschlag ein Symposion statt, an dem die Crème de la Crème der ungarischen intellektuellen und literarischen Welt teilnahm, darunter György Dalos, István Eörsi, Péter Esterházy, Imre Kertész, Ferenc Fehér – und dessen Frau Ágnes Heller. Als das Programm feststand, ließ der Bildungsminister der christlich-konservativen Regierung, Antall, uns, das Organisationsteam, wissen, das sei ja schön und gut, aber er frage sich, warum wir lauter Juden eingeladen hätten, es gebe schließlich genügend ungarische Autoren. Ágnes Heller, damals 74,
Fast wäre ich diesmal aufs Donauinselfest gegangen. Ich hatte nämlich im Radio zu meinem nicht geringen Staunen gehört, dass dort heuer eine neue Bühne eingerichtet worden sei: die „Ebner-EschenbachArea“. Man stelle sich vor: Es gibt keine Goethe-Bühne und keine Grillparzer-Lounge, aber dafür eine „Ebner-Eschenbach-Area“! Dort sollte freilich nicht vorgelesen, sondern musiziert werden, und zwar ausschließlich von Frauen. Die Wiener Frauen-Stadträtin erklärte, Marie von Ebner-Eschenbach sei eine „Vordenkerin“ gewesen, eine „Vorreiterin, was die Gleichbehandlung
Fast wäre ich diesmal aufs Donauinselfest gegangen. Ich hatte nämlich im Radio zu meinem nicht geringen Staunen gehört, dass dort heuer eine neue Bühne eingerichtet worden sei: die „Ebner-EschenbachArea“. Man stelle sich vor: Es gibt keine Goethe-Bühne und keine Grillparzer-Lounge, aber dafür eine „Ebner-Eschenbach-Area“! Dort sollte freilich nicht vorgelesen, sondern musiziert werden, und zwar ausschließlich von Frauen. Die Wiener Frauen-Stadträtin erklärte, Marie von Ebner-Eschenbach sei eine „Vordenkerin“ gewesen, eine „Vorreiterin, was die Gleichbehandlung
Als die heimliche Bemühung der Freiheitlichen um internationale Unterstützung ihres nationalen Anliegens ruchbar wurde, war ich gerade auf einer Tagung in der Ukraine. Die längste Zeit hatten wir unsere Gastgeber bedauert, weil sie nun einen professionellen Komiker als Staatspräsidenten aushalten müssen; mit einem Mal verkehrte sich das Verhältnis, jetzt waren wir die Opfer einer „Politik“ jenseits aller Berechenbarkeit. Wir Österreicher waren uns einig: Was die Herren da planten, war Hochverrat, Landesverrat, Heimatverrat an „die Russen“. Die Verwerflichkeit dessen war zwar
Als die heimliche Bemühung der Freiheitlichen um internationale Unterstützung ihres nationalen Anliegens ruchbar wurde, war ich gerade auf einer Tagung in der Ukraine. Die längste Zeit hatten wir unsere Gastgeber bedauert, weil sie nun einen professionellen Komiker als Staatspräsidenten aushalten müssen; mit einem Mal verkehrte sich das Verhältnis, jetzt waren wir die Opfer einer "Politik" jenseits aller Berechenbarkeit. Wir Österreicher waren uns einig: Was die Herren da planten, war Hochverrat, Landesverrat, Heimatverrat an "die Russen". Die Verwerflichkeit dessen war zwar den
Die in Wien geborene jüdisch-amerikanische Holocaustüberlebende Ruth Klüger hat erst im Alter die große Öffentlichkeit gesucht und gefunden. Am 7. Oktober 2020 ist sie im Kreise ihrer Familie in Kalifornien verstorben. Aus aktuellem Anlass bringen wir die Laudatio, die Daniela Strigl 2015 anlässlich der Verleihung des Paul Watzlawick Ehrenrings an Klüger gehalten hat.