Ruth Klüger - © Foto: APA / Schneider (5) (Bildbearbeitung: Manuela Tomic)

Schriftstellerin Ruth Klüger ist tot

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Die in Wien geborene jüdisch-amerikanische Holocaustüberlebende Ruth Klüger hat erst im Alter die große Öffentlichkeit gesucht und gefunden. Am 7. Oktober 2020 ist sie im Kreise ihrer Familie in Kalifornien verstorben. Aus aktuellem Anlass bringen wir die Laudatio, die Daniela Strigl 2015 anlässlich der Verleihung des Paul Watzlawick Ehrenrings an Klüger gehalten hat.

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Die in Wien geborene jüdisch-amerikanische Holocaustüberlebende Ruth Klüger hat erst im Alter die große Öffentlichkeit gesucht und gefunden. Am 7. Oktober 2020 ist sie im Kreise ihrer Familie in Kalifornien verstorben. Aus aktuellem Anlass bringen wir die Laudatio, die Daniela Strigl 2015 anlässlich der Verleihung des Paul Watzlawick Ehrenrings an Klüger gehalten hat.

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Das Bild eines Menschen in zwanzig Minuten, das ist eine Unmöglichkeit und eine Zumutung - für das Publikum, aber auch für diesen Menschen. Ich behelfe mir mit einer Hilfskonstruktion und drehe an meinem laudatorischen Kaleidoskop, bis sich sieben Facetten der Ruth Klüger zeigen, die heute hier als Susanne Klüger vor Ihnen säße und den Paul Watzlawick Ehrenring verliehen erhielte, wenn nicht - dazu später.

1. Die Überlebende

Wir kennen Ruth Klüger als diejenige, die als Kind und Jugendliche drei KZs überlebt hat, Theresienstadt, Auschwitz, Christianstadt. (...) Ruth Klüger selbst hat die Rolle des wandelnden Mahnmals nicht verweigert, aber sich sehr wohl dagegen gewehrt, auf sie reduziert zu werden. In ihren Erinnerungen "unterwegs verloren" erzählt sie von ihrem Entschluss, sich die tätowierte KZ-Nummer in einer kalifornischen Nobelklinik weglasern zu lassen.

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Zuvor freilich musste sie "weiter leben. Eine Jugend" geschrieben haben, als Beglaubigung des Erlebten, als Andenken an die Toten und als Ausweis des Überlebthabens, ein multifunktionales Kunstwerk der Schrift, das die dem Körper aufgezwungene Schrift der Mordbürokratie ersetzte. Jahrelang hatte Ruth Klüger die Nummer auf ihrem linken Arm, in den USA wie in Deutschland, bewusst nicht versteckt, ihre Umgebung damit provoziert, auch ihre jüdischen Bekannten, von denen einige die Existenz der Davongekommenen uneingestanden als Vorwurf empfanden.

Bereits in "weiter leben" zeichnet sich ab, dass seine Autorin gegen den Opfermythos aufbegehrt: Opfer seien keine besseren Menschen und das Konzentrationslager keine moralische Anstalt. Die Ich-Erzählerin verzichtet auf jede Form von Selbsterhöhung, sie legt, ähnlich wie der Mödlinger Anwalt und Büchner-Preisträger Albert Drach, eine Sprachmaske der Kaltschnäuzigkeit an, und sie nimmt die Musealisierung und Didaktisierung des Schreckens aufs Korn, fragt nach der Sinnhaftigkeit eines mustergültig revitalisierten Todeslagers. Auschwitz :"Ein Ort für Geländebewahrer".

Weder als Autorin noch als Literaturwissenschaftlerin hat Ruth Klüger sich im Rezeptionsghetto des KZ-Opfers einsperren lassen: "Ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien. Wien ist ein Teil meiner Hirnstruktur und spricht aus mir, während Auschwitz der abwegigste Ort war, den ich je betrat, und die Erinnerung daran bleibt ein Fremdkörper in der Seele, etwa wie eine nicht operierbare Bleikugel im Leib."

Mit der Auschwitz-Nummer A-3537 löscht sie zugleich die Punze aus, die ihre gesamte Existenz, ihre berufliche Laufbahn, ihre private Geschichte sichtbar abstempelt. Es ist zuallererst ein persönliches Statement: Überlebende sein ist kein Beruf, keine Lebensaufgabe (obwohl es das in gewisser Weise natürlich schon ist); das Erlittene soll eine Existenz nicht definieren, im Wortsinne von: begrenzen. Denn dann wäre es den Nazis ja gelungen, dem zum Untermenschen gemachten Kind nicht nur die Jugend zu stehlen, sondern ein ganzes Leben.

2. Die Eigensinnige

Wenn es etwas gibt, in dem Selbstbild und Fremdwahrnehmung der Ruth Klüger übereinstimmen, dann ist dies wohl ihr Eigensinn. (...) Im akademischen Betrieb hat Ruth Klüger sich bald den Ruf einer Frau erarbeitet, mit der "nicht gut Kirschen essen" ist, ein Etikett, das dessen Trägerin nicht unbedingt von sich weist. Ja, man kann bei ihr sogar eine "Theorie gewalttätigen Verhaltens" nachlesen, eine Anleitung zur adäquaten weiblichen Genugtuung, der freilich eine entsprechende männliche Beleidigung vorangegangen sein muss. Ruth Klüger - die auch eine Abhandlung über den Freiherrn von Knigge geschrieben hat - entwickelt ihre Merksätze anhand eines Vorfalls, der sich während ihrer Zeit als Leiterin des German Departments in Princeton auf einer Cocktailparty zugetragen hat. "Keine Ohrfeige", heißt es, "wenn der Kerl nämlich die Ohrfeige verdient, so ist er auch ein Mann, der unter Umständen zurückschlägt". Am besten: ein Glas Wein oder Bier ins Gesicht, kein Wasser, das wäre zu "unschuldig". Und: "nur einmal im Leben", wenn der Anlass es verlangt, "sonst kommst du tatsächlich in den Ruf, ein Flintenweib zu sein". An der in "unterwegs verloren" geschilderten Szene aus dem akademischen Nahkampf hätte Paul Watzlawick seine Freude gehabt. (...)

3. Die jüdische Wienerin

Mit noch nicht sieben Jahren, apropos Eigensinn, beschloss die Tochter des Frauenund Kinderarztes Viktor Klüger, nicht mehr Susi heißen zu wollen, sondern Ruth. Das war nach dem Anschluss, als mit der kindlichen Begeisterung für Dollfuß' Österreich nichts mehr anzufangen war. Ruth war eindeutig und für alle erkennbar jüdisch, und es war ein Statement der Opposition - gegen den neuen Zeitgeist, aber auch gegen das emanzipierte Laissez-faire-Judentum der eigenen Familie. Unerschrockenheit ist auch eine intellektuelle Tugend.

Als Erwachsene ist Ruth Klüger stets mit großer Selbstverständlichkeit als Jüdin aufgetreten, ebenso selbstverständlich ohne religiöse Grundierung, aber zugleich hat sie sich dagegen verwahrt, etwa als Literaturwissenschaftlerin speziell zur Behandlung jüdischer Angelegenheiten verpflichtet zu sein. Gewiss befasste sie sich mit Lessing und Heine, mit Salomon Hermann Mosenthal und Arthur Schnitzler, mit Theodor Kramer und Rose Ausländer, aber eben genausogut mit Goethe und Schiller, mit Kleist und Stifter, mit Thomas Mann und Ingeborg Bachmann. (...)

Sich selbst hat Klüger mit der ihr eigenen Genauigkeit eine "zwiespältige und halbherzige Österreicherin" genannt und damit nicht nur ihre österreichisch-amerikanische Doppelstaatsbürgerschaft gemeint. Mir erscheint das Wienerische an ihr gewiss nicht weniger zwiespältig, aber noch charakteristischer. Nie hat sie vergessen, dass diese Stadt nach 1938 für sie Feindesland war, und doch wollte oder konnte sie ihre Wurzeln nicht, wie Theodor Kramer gesagt hat, "aus der Erde drehn". Ruth Klügers literarische Sozialisation im "Tonfall einer vertraut hinterfotzigen Kindersprache", ihr Wortschatz, ihre Sprachmelodie, ihr Sinn für Zwischentöne und Janusgesichter und nicht zuletzt ihr Humor sind durch und durch wienerisch, jüdisch-wienerisch eben. Den passenden Ahnherrn hat sie ohne falsche Bescheidenheit adoptiert. Zehn Tage vor ihrer Geburt starb Arthur Schnitzler: "ich denk mir, der hat mir sein Wien vermacht".

4. Die Germanistin

Nach einer familiären Krise habe sie sich wie ein nasser Hund gefühlt, so erinnert sich Ruth Klüger, der einen warmen Platz sucht, und den habe sie ausgerechnet in der Literaturwissenschaft gefunden. Dabei hatte das Refugium mit einer kalten Dusche begonnen: Mit ihrem Plan, in Berkeley deutsche Philologie zu studieren, war die Neo-Amerikanerin zunächst abgeblitzt, erst ein Umweg über die Anglistik führte sie zur Germanistik. Warum sie sich der so gründlich kontaminierten deutschen Sprache überhaupt wieder näherte, lag auch daran, dass sie sich als von der Schule gejagtes wissbegieriges Kind die deutsche und österreichische Literatur nachhaltig einverleibt hatte, die Klassik und die Romantik, vor allem die Poesie. Mit der Dichtung des Barock hielt sie sich die allzu nahe Vergangenheit zunächst vom Leib. Später indes ließ sie kaum ein heißes Eisen unergriffen; so untersuchte sie antisemitische Sündenfälle in den Werken bedeutender - auch jüdischer - Meister, als dies noch nicht einem allgemeinen Erkenntnisinteresse entsprach.

In ihren germanistischen Arbeiten führt Ruth Klüger mustergültig vor, wie man eine Disziplin "sozusagen vereidigter Pedanten" aus dem Fachwerk-Elfenbeinturm ins Parterre öffentlicher Aufmerksamkeit holt, ohne an Niveau einzubüßen. Wenn die "ganze Literatur" nichts anderes ist als "ein großer Tratsch", mit "fast nichts anderem als Liebesaffären und gewaltsamen Todesfällen, Unzucht und Verrat, Opfermut und Feigheit", dann muss sich auch ihre Wissenschaft die Hände schmutzig machen am Dreck des prallen Lebens. (...)

5. Die Feministin

"Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: - alle dummen Männer." Dieser Aphorismus stammt von Marie von Ebner-Eschenbach, die 1900 als allererste Frau das Ehrendoktorat der Universität Wien erhielt. Ruth Klüger, nomen est omen, kann, obzwar angeblich unmusikalisch, ein Lied davon singen.

Untrennbar ist die Feministin mit den übrigen Facetten dieser Persönlichkeit verbunden, und zwar früh: als Kind in Wien besteht die kleine Ruth am Sederabend darauf, als Jüngste den rituellen Spruch zu sagen, den ihr der Cousin als eigentlich Befugter streitig machen will - er verliert.

"Spät habe ich gelernt, mir meine Betroffenheit als Frau beim Lesen und Zuhören einzugestehen", steht im Titelaufsatz des Bandes "Frauen lesen anders", ein Eingeständnis als ein paradoxes Zeichen der Souveränität. Frauen lesen von Männern Geschriebenes, von Männern Handelndes anders, weil ihnen anderes wichtig ist als den männlichen Lesern, weil sie sich mit anderen Figuren identifizieren, weil sie anders leben. Früh hat Klüger auch darauf hingewiesen, dass überhaupt nur wenige Texte geschlechtsneutral funktionieren, Fahrpläne zum Beispiel, dass aber der literarische Kanon ein männlicher ist. Weshalb man auch große Autorinnen erst hineinreklamieren muss, Annette von Droste-Hülshoff etwa, deren Gedicht "Am Turme" Ruth Klüger als das "erste und vielleicht das beste feministische Gedicht in deutscher Sprache" deutet: "Wär ich ein Jäger auf freier Flur/Ein Stück nur von einem Soldaten,/Wär ich ein Mann doch mindestens nur". (...)

6. Die Kritikerin

Ihren hieb- und stichfesten Verriss von Martin Walsers rachsüchtigem Reich-Ranicki-Roman "Tod eines Kritikers" hat Ruth Klüger als Offenen Brief an den Autor formuliert, wissend, daß er das Ende einer wunderbaren Freundschaft bedeuten mußte: "Aber der Antisemitismus kommt ja in Deinem Buch gar nicht vor, sagst Du. Eben. Er sollte nämlich vorkommen."

Ruth Klüger nimmt es genau, sie nimmt manches wörtlich, und sie nimmt alles persönlich. Kritikerin ist sie in einem weiteren, einem umfassenden Sinne: "meine Art zu schreiben, bei der mir der Begriff Kritik, das heißt Unterscheidung, der wichtigste ist, irritiert". Gegen Sentimentalitäten und "Edelkitsch", insbesondere gegen "KZ-Kitsch" ist Klüger allergisch. Auch als Rezensentin zerpflückt sie ihren Stoff mit Freude am Differenzieren und mit kühner Unzimperlichkeit. Dass sie mit ihrer Parodie auf ein "abstruses" Gedicht von Paul Celan Befremden hervorrief, kommentiert sie trocken: "Über Gott und Goethe darf man lästern, der Autor der 'Todesfuge' ist unantastbar." (...)

7. Die Dichterin

(...) Die Liebe zum Gedicht war ihr früh eingepflanzt, als Liebe zum Rhythmus, zum Reim, zum Klang. In den Zeiten äußerster Not hielt sie sich fest an der Form des inwendig gesicherten Auswendigen, an der gebundenen Sprache als Behauptung innerer Freiheit (...). Im KZ begann Ruth Klüger zu dichten, und ihre Gedichte wurden mit ihr erwachsen, spröd und sperrig, ihre Schönheit ist mit Bedacht beschädigt, beschmutzt, unreine Terzinen sind es, Fragmente einer klassischen Form; sie behaupten ihr Feld, jenen "Experten in Sachen Ethik, Literatur und Wirklichkeit","Adorno vorweg", zum Trotz, die Auschwitz als Grenzmarke für das Dichten bestimmt haben.

Das markante Lebenswerk der mindestens siebenfältigen Ruth Klüger eröffnet uns eine geistige Modellandschaft mit tragfähigen Brücken zwischen Wissenschaft und Poesie. In dem aufregend intimen Band "Zerreißproben" erweitert Ruth Klüger ihre Dichtung als eine Form der Aussprache mit sich selbst für ihre Leser, indem sie sie kommentiert. Das Gedicht "Heldenplatz" endet mit dem Vers: "Auf dem Galgenplatz blüht jetzt der Flieder". - Und die Autorin sagt: "Das ist vielleicht das richtige Symbol für mein Leben."

Am 12. Juni 2015 erhielt Ruth Klüger im Wiener Rathaus den Paul Watzlawick Ehrenring. Dieser Text ist ein Auszug aus der Laudatio von Daniela Strigl.

Weiter Leben - © Foto: dtv
© Foto: dtv
Buch

weiter leben. Eine Jugend

Von Ruth Klüger
Deutscher Taschenbuch Verlag 2008
288 S., kart., € 8,20

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