Erinnerung belastet - Erinnerung erlöst

Werbung
Werbung
Werbung

Ruth Klüger erzählt ihr Leben nach der Flucht aus dem KZ: glänzende Karriere, gescheiterte Ehe und schatten der Vergangenheit.

"Meine Art zu schreiben, bei der mir der Begriff Kritik, das heißt Unterscheidung, der wichtigste ist, irritiert", schreibt Ruth Klüger im zweiten Band ihrer Erinnerungen, "Unterwegs verloren". Muss man den ersten, vor 16 Jahren erschienenen Band, "Weiter leben", kennen, der ein erschütterndes Zeugnis einer von den Nationalsozialisten zerstörten Kindheit und Jugend ist? Wünschenswert wäre es, aber nicht zwingend. "Unterwegs verloren" schildert ihr Leben nach der Flucht aus dem letzten der drei Konzentrationslager, die sie zwischen ihrem 12. und 15. Jahr überstand. Das neue Buch ist zwar überschattet von der grauenvollen Vergangenheit, doch - als könnte man davon absehen - zeigt es ein in vielem typisches Leben von Frauen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: eine gescheiterte Ehe, eine nach außen glänzende Karriere, erkauft mit schlechtem Gewissen gegenüber den zwei Söhnen, die sich ihr entfremdeten, ein nicht gewonnener Kampf gegen das Patriarchat und kein Vertrauen zu Männern. "Nach wie vor habe ich keine rechten Freunde unter Männern", schreibt die heute 77-Jährige.

Vorzeigefrau in Princeton

Die aus Wien stammende, angesehene Germanistin der USA hat 1996 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Frauen lesen anders". Die zentrale These dieser bahnbrechenden Studie lautet: "Wir Frauen lernen lesen, wie Männer lesen. Es ist nicht so schwer. Die interessantesten Menschen in den Büchern, die als wertvoll gelten, sind männliche Helden." Männliche "Helden" sind Ruth Klüger von den Nationalsozialisten ermordet worden: ihr Vater und ihr älterer Bruder. Ihm ist das erste Kapitel ihres neuen Erinnerungsbandes gewidmet. Erst als er, hätte er denn überlebt, in ein lebenssattes Alter gekommen wäre, lässt sie sich die KZ-Nummer, mit der sie viel Anstoß erregte, weglasern. Doch der Versuch, die Gespenster der Vergangenheit abzuschütteln, misslingt.

Ruth Klüger stellt sich ihrer Vergangenheit ohne Illusionen, gnadenlos gegen sich selbst, und sie schont auch andere nicht. Warum sollte sie? Sie hat es geschafft, die erste Ordinaria für Germanistik an der Universität Princeton zu werden, um später zu erfahren: "Die Germanistik von Princeton brauchte eine Vorzeigefrau. Das war's." 2003 verbrachte sie ein Semester als Gastprofessorin an der Universität ihrer "Heimatstadt" Wien. Keiner der Kollegen lud sie auch nur zu einem Kaffee ein; die Bezahlung war miserabel, das Arbeitspensum viel zu groß, Vorkehrungen für eine Wohnung und die Reise waren nicht getroffen worden. Was Wunder, dass sie sich fragt, "ob die Herren keine Frau oder keine Jüdin haben wollten".

Ihre Ehe mit einem cholerischen Geizhals beendete sie nach neun Jahren. Welche Frau besitzt Ruth Klügers Mut, öffentlich zu sagen, dass die Kinderfreude für eine intelligente Frau ihre Abgründe hat: "Die beiden Zustände - Langweile bis zur Klaustrophobie einerseits und Erschöpfung, weil's zu viel auf einmal zu tun gibt - scheinen sich zu widersprechen, aber jede Hausfrau und Mutter kleiner Kinder wird attestieren, dass sie zusammenpassen wie die Teile eines Puzzles." Ruth Klüger weiß, dass die Mehrzahl ihrer Leser weiblich ist: Die Leserinnen können sich, je nach Generation, der sie angehören, fragen, wie weit Gleichberechtigung in ihrem Leben Einzug gehalten hat.

Preise, Pass und Pension

Ein "normalisiertes" Leben kann es für einen Menschen nicht geben, der in seiner Kindheit und Jugend derart extrem negativen Erfahrungen ausgesetzt war wie Ruth Klüger. So kündigt sie ihrem einzigen deutschen Freund, Martin Walser, die Freundschaft auf nach dessen gehässigem Buch gegen Reich-Ranicki, "Tod eines Kritikers". Und sie nennt Siegfried Unseld einen "extrem unhöflichen Deutschen", da er an ihr seinen Zorn auslässt für die Suhrkamp-Ablehnung ihres Buches "Weiter leben".

Ruth Klüger mangelt es nicht an Fairness zuzugeben, dass sie für ihre Bücher besonders in Österreich mit Preisen überschüttet wurde, zu ihrem amerikanischen auch einen österreichischen Pass und eine winzige Pension "für den zwangsweise versäumten Schulunterricht" erhält.

Ist es nur Bitterkeit oder eine bange Frage, wenn sie schreibt: "Wenn eine Tierart fast ausgestorben ist, weil sie so intensiv gejagt wurde, dann werden die übriggebliebenen Exemplare der Art besonders gepflegt. Juden sind so zu Walfischen geworden - man schützt sie."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung