Die Magersucht als Trend-Thema

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Ein guter amerikanischer Roman und ein schwachbrüstiger italienischer Bestseller über die neueste Modekrankheit der Literatur: Anorexie.

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Ein guter amerikanischer Roman und ein schwachbrüstiger italienischer Bestseller über die neueste Modekrankheit der Literatur: Anorexie.

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Ruth war ein perfektes Kind, berichtet ihre Mutter. Ohne sichtbare Anstrengung war sie stets Klassenbeste und bekochte fröhlich die Familie, wenn die Mutter von ihren Vorlesungen spät nach Hause kam. Mit 14 hörte sie auf zu essen, die Familientherapie endete nach der ersten Sitzung im erbitterten Streit der geschiedenen Eltern. Ein indischer Therapeut bewirkte Besserung, doch in ihr schlummerte weiterhin das nach Liebe hungernde Kind.

Ruth achtet akribisch auf ihr Gewicht. Wenn sie nicht schlafen kann, steht sie mitten in der Nacht gedankenverloren vor dem vollen Kühlschrank, ohne einen Bissen anzurühren, oder treibt exzessiv Sport. Salat bereitet sie "mit der Wendigkeit eines Chirurgen" zu, doch an einem Cracker kann sie zehn Minuten kauen. Aus Restaurants flüchtet sie manchmal in Panik, aus Mitleid mit den toten Tieren auf den Tellern. Joseph liebt Ruth trotz ihrer Eskapaden und gerade wegen ihrer Zartheit, und als sie ihn halbherzig in ihr Geheimnis einweiht, beschließt er, sie mit seiner Liebe zu heilen. Auch Ruth liebt Joseph - so sehr, daß sie sogar seinen Kater in der Wohnung duldet, obwohl der "frißt wie ein Pferd".

Eine Liebesgeschichte in New York, die dank der Erzählkunst von Jonathan Rosen zum spannenden, tiefgründigen Szenario moderner Zerrissenheit und Sehnsucht nach Harmonie wird. Das kunstsinnige, sensible Mädchen, das die Dissertation der Mutter gern gegen warme Mahlzeiten nach der Schule und zärtliche Umarmungen getauscht hätte und der jungen Frau des Vaters das runde, wohlriechende Baby neidet, möchte den Krieg, den sie mit Messer und Gabel gegen sich selbst führt, gewinnen. Jede Woche geht sie zum Therapeuten, liest einschlägige Bücher und versucht ein normales Leben zu führen. Anorexie, Mangel an Hunger, nennt man ihre Krankheit: "Dein Körper macht nur immer: "Essen, essen, essen" und dein Hirn: "Nein, nein, nein", erklärt sie ihren täglichen Kampf.

Für Joseph, den Sohn jüdischer Einwanderer, der seit dem Selbstmord der Schwester an der "Schuld" trägt, ihn nicht verhindert zu haben, wird die Sorge um Ruth, sein Ringen um "Verständnis für den Charakter ihrer Krankheit", zur Manie. Er verschlingt die Fachliteratur über Eßstörungen und wird zum Experten, aber auch immer verwirrter. Er weiß jetzt zwar, daß schon heilige Frauen im Mittelalter mit Askese Macht und Einfluß errangen, daß reiche und kluge Mädchen eher als arme und dumme an Anorexie erkranken (14, 9 Prozent haben einen IQ über 120) und 15 von 100 daran sterben. In einer Studie liest er, daß 50 Prozent der College-Studentinnen lieber von einem Lastwagen überrollt als dick werden wollen. Den Geheimnissen des Selbstzerstörungstriebs, der weiblichen Melancholie, kommt er nicht auf die Spur.

Ruth spricht mit ihm offen über ihre überwundene jugendliche Magersucht, doch ihre akuten Freß- und Kotzanfälle verbirgt sie mit tausend Tricks. Je mehr er über die Krankheit weiß, desto mißtrauischer beobachtet er sie, je mehr sie sich von ihm enttarnt fühlt, desto größer wird ihre Verzweiflung. Erlösung kommt vom abgedankten Therapeuten Flek, der Hinweise gibt. Ratschläge wäre schon zuviel gesagt. Obwohl im Rollstuhl, wird er mit seiner Lebensfreude für Joseph zum Gegenpol für Ruths Körperverweigerung. Unaufdringlich befreit er ihn von der Sucht, nach Lösungen für Ruths Probleme und Lebensrezepten zu suchen. Er rät ihm, Ruths Geheimnisse wie die verborgene Seite des Mondes bei Neumond zu respektieren, die jeder Mensch mit sich herumtrage: "Wir haben alle eine Leiche im Keller, unsere eigene."

Jonathan Rosen, der das Feuilleton der auf Jiddisch und seit einiger Zeit auch Englisch erscheinenden New Yorker Tageszeitung "Forward" leitet, schrieb einen Roman in der Tradition großer jüdischer Erzähler wie Isaac B. Singer oder Joseph Roth, mit klaren, zarten Bildern, die von der ersten Seite an gefangennehmen und 314 Seiten lang nicht loslassen. Wenn Joseph als Lehrer für russische Einwanderer von deren überbordender Lebensfreude, ihrem Mut, die Zukunft zu meistern, fasziniert ist und die tragische Geschichte seiner eigenen Familie nachzeichnet, die es äußerlich "geschafft", aber die Tochter verloren hat, wenn er verzweifelt und verwirrt auf den Spuren seiner armen Großeltern plötzlich in strömendem Regen vor einer versperrten Synagoge steht, wenn er fast vor Angst vergeht, daß er bei Ruths Heilung wieder versagen könnte, indem er einen entscheiden Moment übersieht und sich letztendlich für das Leben entscheidet, klingt Kummer und Leid der ganzen Welt und die trotz allem wärmende Kraft der Liebe auf berührende Weise an.

Ruths Eßstörungen sind wohl auch Metapher für die wachsende Schwierigkeit von Frauen, sich als gar nicht perfekte Menschen in der körperlosen Scheinwelt von Film und Werbung selbst zu akzeptieren (Ruths Mutter dissertierte über "Frauenbilder im Film", Flek ist Sohn eines Filmregisseurs). Die Krankheit steht aber auch für den - von Frauen offenbar viel unerbittlicher geführten - Kampf des Geistes gegen den Körper, der nicht zu gewinnen ist ("Wir wollen keine hungrigen Tiere sein, sondern in Fleisch gekleidete Seelen") und als Antwort auf kumpelhafte Karrieremütter, die in der Männer-Berufswelt oft nur um den hohen Preis reüssieren können, "die Frau in sich abzutreiben". Ruth findet kein bewunderungswürdiges Vorbild, das nicht magersüchtig wäre wie sie. Warum soll sie überhaupt eine Frau werden wollen? Joseph findet immerhin Flek, der trotz des Rollstuhls fest und genüßlich im Leben steht.

Der Roman endet im Frühling. Ruth muß wieder in die Klinik, Josephs russische Studenten üben Englisch für ihre Zukunft: "Ich werde Cadillac sein" sagt einer, "ich werde viel Geld sein" ein anderer, "ich werde sein werde sein" die russische Hebamme Galina.

Magersucht ist offensichtlich nicht nur eine in unserer Wohlstandsgesellschaft grassierende Krankheit, sie ist auch zu einem Lieblingsthema der Romanautoren geworden. Nadia Fusini, Übersetzerin englischer Literatur und Hochschullehrerin in Rom, hat das zugkräftige Thema mit ein paar Binsenweisheiten gewürzt, einige Familienklischees, eine Prise italienische Landschaft samt Meeresküste darübergestreut und das ganze mit einem Fast-Happy-End versehen. Herausgekommen ist ein Bestseller, der viele Wochen lang die italienischen Literatur-Hitlisten anführte. Die Autorin hat damit an den Erfolg von Susanna Tamaro ("Geh wohin dein Herz dich trägt"), die in Italien inzwischen Kultstatus genießt, angeschlossen.

Daran wäre nichts auszusetzen, gehört doch zum Bestseller auch das Gespür für ein Thema, das in der Luft liegt. Ich habe bloß gedacht, daß noch etwas mehr dazugehören würde, zum Beispiel sprachliche Authentizität. In diesem offensichtlich autobiographischen Roman - die Ich-Erzählerin trägt den gleichen Vornamen wie die Autorin - wird nie ganz klar, wie alt die Erzählerin eigentlich ist. Zu Beginn erzählt sie wie ein Kind, dazwischen reflektiert sie übergangslos in der Sprache Erwachsener mit psychotherapeutischem Know-how, dann wieder ist sie eine Jugendliche, deren vielgeliebter Vater stirbt, was sie allerdings mit den Gefühlen einer reifen Frau schildert, um zum Schluß den weiten Rückblick aus der Distanz einer Erwachsenen zu enthüllen. Dem Roman fehlt die Authentizität der Sprache, die, zugegeben, bei Jugendlichen schwer zu treffen und durchzuhalten ist. Die Brüche im Erzählton wirken ungewollt. Die ganze Geschichte bleibt psychologisch wie auch sprachlich an der Oberfläche. Vaterliebe + Mutterhaß = Magersucht: auf diese einfache Formel reduziert Fusini das Problem, am Schluß liebt sie zwar die Mama dann doch (warum plötzlich?), scheint mit ihrem eigenen Überleben aber nicht wirklich glücklich zu sein.

Eine trostlose Selbstreflexion, die immer wieder Verständnis für Lust- und Lebensverleugnung vermittelt. Literatur ist sie deshalb noch lange nicht. Offenbar entspricht der Roman mit seiner eigenartigen Prüderie (Sexualität kommt nicht vor, was angesichts des Themas verwundert) und dem alles dominierenden Therapeutenjargon, mit ganzheitlich-esoterischen Weisheiten aufgemotzt, besonders gut dem Zeitgeist. Und der hat ja schon manchen Bestseller-Luftballon aufgeblasen.

Evas Apfel Roman von Jonathan Rosen, Aus dem Amerikanischen von Mechthild Küpper, Fest Verlag, Berlin 1997, 314 Seiten, geb., öS 321,- Am besten gefiel mir ihr Mund Roman von Nadia Fusini, Übersetzung: Christel Galliani, Bertelsmann Verlag, München 1998, 220 Seiten, geb., öS 255,-

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