Keine Täter und keine Opfer

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Am 13. August, zwei Tage früher als ursprünglich geplant, stattete Japans Premierminister Junichiro Koizumi dem Yasukuni Schrein in Tokio einen Besuch ab. Seither zieren zwei Kränze aus weißen Lilien und Chrysanthemen als offizielle Tribute des Premiers an die Kriegstoten den Schrein. Mit der Vorverlegung seines Besuchs fand Koizumi einen typisch japanischen Kompromiss und schrammte knapp an einer diplomatischen Verstimmung mit China und Korea vorbei.

Vor allem zur Zeit der Kirschblüte ist der Yasukuni Schrein ein beliebtes Pilgerziel. Im Park, gleich neben den alten Kampfpanzern, wird gegessen, getrunken und gefeiert. Zu Neujahr absolvieren Millionen hier ihren traditionellen Schreinbesuch und warten geduldig in der Menge, bis die Reihe an ihnen ist, Münzen in die Opfertröge zu werfen, in die Hände zu klatschen und in einen kurzen Dialog mit den Göttern zu treten. Seit 1868 ist der Shinto-Schrein denen gewidmet, die ihr Leben im Kampf für Japan gelassen haben. Bis 1945 war der Shintoismus in Japan Staatsreligion, mit dem Gott-Kaiser an der Spitze. In seiner Nachkriegsverfassung hat sich Japan zum Verzicht auf Krieg und die Trennung von Kirche und Staat verpflichtet. Als Verfassungsbruch sehen manche denn auch den offiziellen Besuch eines Politikers beim Schrein. Wer dem Schrein, noch dazu am Jahrestag der Kapitulation, seine Aufwartung macht, drückt in jedem Fall eine eindeutige Gesinnung aus: denn nicht alle der rund 2,5 Millionen Kriegstoten, deren Seelen hier eine letzte Ruhestätte gefunden haben, waren "harmlose" Soldaten. Verehrt werden auch Männer wie General Tojo Hideki, die nach 1945 als Kriegsverbrecher hingerichtet wurden.

Die Japaner erstarrten, als Kaiser Hirohito am 15. August 1945 aus dem Radio zu ihnen sprach. Erstmals hörten sie die Stimme des Tenno, der bislang als Gott gegolten hatte. Was er sagte, war in altmodischem, kaum verständlichem Japanisch gehalten. Viele wussten mit der Nachricht gar nichts anzufangen, andere verstanden und brachen in Tränen aus - der Kaiser hatte soeben die Kapitulation Japans verkündet.

Seit Anfang der dreißiger Jahre okkupierten die kaiserlichen japanischen Truppen die asiatischen Nachbarländer, offiziell, um sie von den westlichen Kolonialmächten zu befreien. Dahinter verbargen sich Großmachtsträume: Asien sollte unter Führung Japans zu einer "groß-ostasiatischen Wohlstandssphäre" werden. Was unter dem Deckmantel der Befreiung geschah, war grauenhaft: bei der Einnahme Nankings massakrierten japanische Soldaten rund 300.000 Zivilisten. Etwa 200.000 asiatische Frauen mussten als Zwangsprostituierte in Bordellen an der Front dienen. In Nordchina führte die Einheit 731 medizinische Experimente an lebenden Menschen durch. Die Liste der zum Teil bis heute ungesühnten Verbrechen ist lang.

So wird Japan in Asien bis heute mit gemischten Gefühlen beobachtet. Vor allem Korea, das schon 1910 kolonialisiert wurde und China sind höchst sensibilisiert auf alles, was nach Revanchismus oder Verharmlosung klingt. Ein Schreinbesuch am 15. August käme einer Rechtfertigung der japanischen Grausamkeiten gegen Asien während des Krieges gleich, waren Seoul und Peking über den angekündigten Schreinbesuch entsetzt.

Im Gedenkjahr 1995 wollte der sozialistische Premier Murayama das Parlament zu einer Resolution des Bedauern über die Gräuel bewegen - doch nach peinlichen Schlagabtäuschen setzten die Konservativen einen verwässerten Kompromiss durch. Bis heute haben die Zwangsprostituierten keine individuellen Entschädigungszahlungen bekommen. So wie sich Japan generell auf den Standpunkt stellt, alle Entschädigungsansprüche seien durch bilaterale Abkommen auf zwischenstaatlicher Ebene geregelt. Bis heute wird in Museen oder Schulbüchern bei der Darstellung der Kriegszeit um Punkt und Beistrich gerungen. In den letzten Jahren häuften sich nationalistische Ausrutscher: 1999 wurden die Flagge Hinomaru und die Hymne Kimigayo wieder zu offiziellen Symbolen des Staates erklärt. Eine Provokation für alle, die während des Krieges genau unter diesen Symbolen litten.

Als Koizumis Vorgänger Mori im Vorjahr Japan als "göttliches Land mit dem Tenno im Mittelpunkt" bezeichnete, gingen die Wogen der Empörung hoch. Mori hatte seine Bemerkung noch dazu bei einem Treffen der rechtsgerichteten politischen Shinto Liga gemacht - einer Vereinigung von Shinto Priestern und Parlamentariern, die sich für eine Wiederbelebung des Staatsshintoismus stark machen.

Über 30 Jahre lang hatte der Historiker Ienaga Saburo vor Gericht dafür gekämpft, die Wahrheit in den Schulbüchern schreiben zu dürfen; regelmässig waren seine Texte vom Erziehungsministerium zensuriert worden. Die inkriminierten Passagen betrafen die Zahl der Toten von Nanking, die Zwangsprositution, die Menschenexperimente, den Begriff Invasionskrieg. 1997 hatte der Historiker schließlich einen späten Triumph errungen und Recht bekommen. Der Gegentrend ließ nicht lange auf sich warten. Mit pseudo-wissenschaftlichen Methoden schrieben "Historiker" gegen das "masochistische" Geschichtsbild an, das der Jugend geboten werde. Nun ist ein neues, verharmlosendes und beschönigendes Geschichtsbuch approbiert worden, das in China und Korea, aber auch in Japan selbst die Wogen hochgehen lässt. Es gab Protestaktionen und Demonstrationen. Dass sich bislang nur wenige Schulen dazu entschlossen haben, die Texte im Unterricht zu verwenden, ist ein positives Signal.

Im "War Memorial Museum" des Yasukuni Schreins sucht man vergeblich nach Hinweisen auf die Opfer oder Anzeichen von Reue. Neben allerlei Kriegsgerät werden hier nur die Ruhmestaten, die Tapferkeit und das Leid der japanischen Soldaten präsentiert. Im Museumsshop soll indes ein Buch erhältlich sein, das angeblich zur Lieblingslektüre von Premier Koizumi gehört: die Abschiedsbriefe junger Männer, die ihr Leben fürs Land hingaben. So zumindest kolportieren es japanische Zeitungen dieser Tage.

Und das Gästebuch des Schreins ist seit dem 13. August 2001 um eine Politikersignatur reicher.

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