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Erben des Schwarzen Drachen

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ICH TRAF DIE FAMILIE YAMA-GUSHI. Aber der schmale Körper des achtzehnjährigen Attentäters lag nicht mehr aufgebahrt auf der weißen Matte. Am Morgen, achtundvierzig Stunden nach dem Attentat, war er in das Holzhaus der Toten im Tempel der Zen-Mönche von Kamakura gebracht worden. Die politischen Folgen des Attentates vergingen nicht mit dem Begräbnis des jungen Attentäters. Der achtzehnjährige Otoya Yamagushi hatte im Zentralgefängnis von Tokio einen Sterbevers geschrieben, bevor er sich tötete. Die Gefängnisverwaltung war unvorsichtig genug, den Vers zusammen mit der Leiche den Eltern zu übergeben. In tausenden Exemplaren vervielfältigt, ging der Haiko des Yamagushi unter den nationalen Gymnasiasten von Hand zu Hand, während in den Straßen von Tokio Sozialisten und Kommunisten gegen den Terror der nationalistischen Geheimbünde protestierten.

Das Gedicht des Yamagushi bekam ich dann von einem Mönch in Nara.

Sorgfältig übersetzte er Wort für Wort ins Englische. Dann sagte er: „Sehen Sie, die Zeit von heute hat Ähnlichkeit mit der Zeit, in der die Gesellschaft vom Schwarzen Ozean,

Genyosha, gegründet wurde. Damals wie heute diktierten in Japan Ausländer, und gegen diese Schande sammelten sich junge Männer im Geheimbund. Nach dem Genyosha kam der Koku Diu Kai, die Gesellschaft vom Schwarzen Drachen, die Jimukai, Gefolgschaft des Tenno — und zum Schluß die Putsche, die Attentate, die Militärdiktatur und der Krieg. Wenn in Japan das Gesetz der Ausländer gilt, finden sich immer junge Menschen, die glauben, daß es ihre Pflicht ist, die Verbündeten der Ausländer in Japan zu töten und dann selbst zu sterben.“

Das Kloster von Nara steht in einem Wald, und zahme Rehe werden von den Mönchen gefüttert. Als ich einen Mönch fragte, ob er die Tat und das Sterben des jungen Yamagushi für richtig hielt, sagte er: „Vielleicht.“ Später erfuhr ich, daß der Mönch Offizier der kaiserlichen japanischen Marine gewesen war, Absolvent jenes berühmten „sechzigsten Jahrganges“ der Militärakademie, aus dem auch die Führer des Komplotts gegen Ministerpräsident Ikeda Ende 1961 kamen. Viele Offiziere sind Mönche in buddhistischen und Shinto-Tempeln geworden, andere Kaufleute. Gärtner. Und einige sind Lehrer geworden in der Gesellschaft zum Studium der Geschichte Japans, „Kokushi Kai“, die von der Polizei als Tarnung für die Nachkommen der Gesellschaft des Schwarzen Drachen entlarvt wurde.

IM HAUS DES ATTENTÄTERS. Das Gedicht verschaffte mir den Eintritt in das Haus der Yamagushi. Eines jener kleinen Holzhäuser mit einem Garten, in dem acht Steine, vier Zwergkoniferen um einen überwachsenen Tümpel stehen. Auf der Matte, wo der Sarg des Jungen gestanden war, lagen weiße Chrysanthemen. Wir saßen an einer Wand aus Pappendeckel, und ich trank mit den Yama-gushis den grünen, bitteren Tee der besten Sorte, der bei Festen gereicht wird. In den acht Stunden, die ich im Haus des Attentäters war, entstand über der Stelle, wo der Sarg des Jungen gestanden war, ein ganzer Hügel aus Blumen. Ständig kamen Menschen, die dem alten Yamagushi ihre Visitenkarten überreichten und auf die bereits vorhandenen Blumen neue legten. Die meisten der Gäste waren junge Menschen. Einige, die jüngsten, reichten Yamagushi nicht die Visitenkarten und sagten nicht ihren Namen; Gymnasiasten, die fürchteten, von den Behörden aus der Schule ausgeschlossen zu werden, wenn es bekanntwerden sollte, daß sie Blumen für den Sarg des Attentäters bringen. Sie verneigten sich tief und entschuldigten sich. Ich weiß nicht, wie viele Menschen an diesem halben Tag Blumen brachten. Ich weiß nicht, ob sie alle den Helden des Attentats oder den Helden des Selbstmordes ehrten. Aber jeder von ihnen hatte einen Streifen Papier in der Hand, mit dem Haiko des jungen Yamagushi, und jeder kniete auf der Matte hin und sagte das Gedicht, nachdem er die Blumen auf der Stelle niedergelegt hatte, wo der Sarg gestanden war. Am selben Nachmittag demonstrierten mehr als zehntausend Kommunisten im ekstatischen Tanzschritt der Shinto-Feste durch die Ginza. Auf den roten Bändern, die sie um ihre Stirn trugen, stand „Tod den Reaktionären“.

DER POLIZEIBERICHT VOM DEZEMBERKOMPLOTT 1961. Nachdem das Komplott der dreizehn nationalistischen Attentäter gegen Ministerpräsident Ikeda von der Polizei in Tokio aufgedeckt worden war, berichtete die Polizei: In Japan gibt es mehr als 400 nationalistische Geheimbünde im Geiste der Gesellschaft vom Schwarzen Ozean, der Gesellschaft vom Schwarzen Drachen und der Gefolgschaft des Tenno. Mehr als hunderttausend Mitglieder konspirieren in den Geheimbünden; Verschworene, von denen die meisten bereit sind, Japan unter Einsatz ihres Lebens von der Schande der „Herrschaft der Ausländer“ und von der Gefahr des Kommunismus zu befreien.

Die meisten der Geheimbünde rechnen auch den Kapitalismus zu den Gefahren für Japan und schließen in die Formel ihrer Hingabe an Nippon den Kampf gegen die großen Konzerne ein. Auch das liegt in der Tradition der Geheimbünde Japans. Alle Ströme des japanischen Nationalismus, von der Gesellschaft des Schwarzen Ozeans bis zu den Militärverschwörungen, waren revolutionäre Bewegungen einer romantischen feudalen Reaktion. Die Geheimbünde und auch das kaiserliche Militär sahen sich als Träger der Gemeinschaft von Samurais und Bauern im Dienste der Identität von Kaiser und Nation. Das Führerkorps der Geheimbünde und der patriotischen Gesellschaften wurde immer wieder durch Sozialrevolutionäre ergänzt. Aus den kommunistisch-anarchistischen Gruppen, die nach 1890 immer wieder zerschlagen wurden und neu entstanden, fanden einige der radikalsten Führer den Weg zu den patriotischen Bünden. Die Serie der Attentate in den dreißiger Jahren richtete sich nicht nur gegen die demokratischen Berufspolitiker, sondern auch gegen die gToßen Konzerne als deren Auftraggeber.

Am 15. Mai 1932 wurde zusammen mit dem Ministerpräsidenten Takeshi Inukai auch ein Großer der Familie Mitsuwishi, Baron Tokuma, von jungen Offizieren ermordet. Einer der Mörder war Marineleutnant Taktau Mikani. Nach zehn Jahren Gefängnis im Krieg freigelassen, blieb Taku Mikani Fachmann für Geheimbünde und wurde im Dezember 1961 als Führer der Konspiration gegen Ikeda wieder verhaftet. Beim großen Putsch, am 26. Februar 1936, töteten.die jungen Soldaten und Offiziere nicht nur den kaiserlichen Siegelbewahrer Minoru Sai, sondern auch Finanzminister Ko-rekyo Takahashi, den Vertrauensmann der großen Konzerne. Nach der Niederlage von 1945 schien die Macht der Konzerne gebrochen. Und die Geheimbünde konzentrierten ihren Haß auf die „ausländischen Besatzungsmächte“, später auf Sozialisten und Kommunisten. Heute sind die Konzerne im demokratischen Japan wieder stark, stärker denn je zuvor. Die Liberaldemokratische Partei wird von den ganz großen Familien der Konzerne beherrscht. Der Hunger nach dem Handel mit Rotchina macht die größten Konzerne zu politischen Kräften, die zwielichtig, zwiespältig, aber zielbewußt für Japans Beziehungen zu Peking eintreten. So ist die alte Front der Feinde der patriotischen Bünde wieder da, das Angriffsziel der Konspirationen erneut erstanden.

*

Am 12. Oktober 1960 war es noch der radikale Sozialist Inejiro Asamma, der unter dem Dolchstoß des jungen Attentäters Yamagushi starb. Im Dezember 1961 waren es schon liberaldemokratische Minister, die getötet werden sollten. Und Anfang Jänner 1961 war wiederum ein radikaler Sozialist, Dr. Suzuki, auf der Liste der Geheimbündler, und ein 17jähriger Junge wurde verhaftet, als er den Dolch schon bei sich trug. Die Reihe der Feinde ist wieder die gleiche wie in der Zeit der Gesellschaft zum Schwarzen Ozean und der Gesellschaft zum Schwarzen Drachen: liberale Politiker, radikale Sozialisten und Kommunisten.

In einem Japan, das die Not der Nachkriegszeit und die Schande der nationalen Besetzung hinter sich, aber nicht überwunden hat, wächst wieder die romantische Verheißung der patriotischen Geheimbünde auf die Jugend. Die Kriege in Korea, Vietnam und Laos fachen die Glut an, die seit der Niederlage Japans in der patriotischen Jugend Japans glost.

Die Mehrheit der Jugend hat sich vom Nationalismus losgesagt, und ein großer Teil schwimmt den Gestaden der amerikanischen Lebensweise zu oder im Strom des marxistischen Klassenkampfes. Die jungen Menschen, die ich im Hause des Yamagushi sah, wissen, daß sie eine verlorene Minderheit sind, gehalten und geführt von einer kleinen Schar ehemaliger Offiziere, in Klöstern, Büros und Schiffahrtsgesellschaften. Zum Bushido kommt die Romantik des verlorenen Haufens. Die Geheimbünde sind in absehbarer Zeit mit den Methoden der liberalen Politik unschlagbar, sie werden immer wieder zuschlagen.

DAS OPFER EHRT DIE ATTENTÄTER. Ich war Gast bei Shigero Yoshida, dem alten Mann der japanischen Politik. Das Gut des Fünfundachtzigjährigen liegt in Oysio am Meer. Viermal seit 1945 war Shigero Yoshida Ministerpräsident gewesen. Seit er sich aus Tokio nach Oysio zurückgezogen hat, liegen die Zügel der japanischen Politik fester als je in seinen Händen. Kishi, der Ministerpräsident des japanisch-amerikanischen Bündnisses. Ikeda, der Ministerpräsident von heute, Sato, der Handelsminister im Kabinett Ikedas, sind nichts als große Männer in der Hausmacht Yoshidas. Neben dem Schreibtisch des alten Politikers hängt eine Photographie Ozaki Yukios, der als Liberaler von der Zeit des Meji bis zu seinem Tod, 1954, dem japanischen Nationalismus und Militarismus die Stirne bot. Shigero Yoshida übersetzte den Vers, den Ozaki Yukio 1932 schrieb, als junge Offiziere bereitstanden, ihn zu töten.

„Die Männer sind zu ehren, die mein Leben bedrohen. Sie sind bereit, für Japan zu sterben.“

Der Geist des Bushido. der die jungen Männer zu Attentätern macht, lebt auch in deren Opfern, den Liberalen.

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