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Als empirische Soziologie

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In Anbetracht des knappen Raumes, der mir zur Verfügung steht, möchte ich mich hauptsächlich mit dem dritten Punkt Ihrer Umfrage beschäftigen. Es scheint mir kaum ein lohnendes Unterfangen, über die Zukunftsperspektiven eines wissenschaftlichen Systems zu spekulieren. Begnügen wir uns daher mit der Feststellung, daß die Marx- sche Gesellschaftslehre ein recht lebendiges Dasein in der Gegenwart führt, auch wenn sie von den österreichischen Universitäten totgeschwiegen wird.

Im Osten ist der Marxismus in den Rang einer Staatsdoktrin erhoben worden, was seiner Funktion der kritischen Gesellschaftsbetrachtung Abbruch getan hat. In jüngster Zeit sind jedoch auch in diesem Weltteil Strömungen aufgetreten, die das Versprechen der schließ- lichen Rückkehr zu den wissenschaftlichen Positionen des Marxismus in sich tragen. Im Westen wird der Marxismus als eine Art intellektuellen Rauschgifts betrachtet. Gegen seinen Genuß wird von fast allen gesellschaftswissenschaftlichen Kanzeln gewettert, aber trotzdem — oder vielleicht gerade deswegen — wird die Nachfrage nach marxistischer Konterbande von Tag zu Tag größer. Nur wenige große Gelehrte des Westens bekennen sich offen zum Marxismus: in England Maurice Dobb, in den USA Paul M. Sweezy, in Frankreich Charles Bettelheim und Jean Paul Sartre, in Deutschland Wolfgang Abendroth, um einige bedeutende Namen zu nennen. Aber marxistisches Gedanken gut ist von fast allen großen Gesellschaftstheorien der Gegenwart — in größerem oder geringerem Maße

— aufgenommen und weiterentwickelt worden.

Die Keynessche Lehre fußt bekanntlich auf der radikalen Abkehr von dem Dogma von den Absatzwegen (das besagt, daß die Produktion die ihr adäquate Nachfrage hervorruft), auf der Annahme einer chronischen „demand deficiency“ (oder „Unterkonsumtion“), und sie zieht aus diesen Erkenntnissen den Schluß, daß die Investitionsfunktion dem Staat übertragen werden müsse. Vor beinahe hundert Jahren hat Marx die gleichen Betrachtun- gen angestellt und damit der Arbeiterbewegung den Kompaß für die sozialistische Umformung der modernen Gesellschaft gegeben. Seit Schumpeters „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ steht die Nationalökonomie im Bann der evolutionären Betrachtungsweise. Aber die moderne Wachstumstheorie, die es sich zur Aufgabe macht, „das ökonomische Be wegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“, geht so einen Weg, den ihr Marx im Vorwort zum ersten Band des „Kapital“ vorgezeichnet hat. Den Einfluß Marxens auf die moderne Soziologie hat der große amerikanische Soziologe T alcott Parsons einmal mit den Worten charakterisiert, „daß die marxistische Anschauung von der Bedeutung der Klassenstruktur sich auf breiter Front bewährt hat“.

Der Marxismus ist meines Erachtens nichts anderes als ein Versuch, die Bewegungsgesetze einer Gesellschaft zu erforschen, die den blinden Kräften des Marktes die Bewältigung ihrer wichtigsten Aufgaben überläßt; er will auf diese Weise die Grundlage für eine rationalere gesellschaftliche Ordnung schaffen. Der Marxismus ist also empirische Soziologie (um mit Otto Neurath zu sprechen), und nicht Ideologie oder Weltanschauung. Aber soferne sich Ideologie und Weltanschauung mit dem Marxismus in der Zielsetzung begegnen, eröffnen Dialog und gemeinsame Aktion eine für die weitere gesellschaftliche Entwicklung hoffnungsvolle Perspektive.

Ob der Marxismus eine Zukunft hat, ist schwer zu sagen; aber der Marxismus zeigt, wie wir uns für eine bessere Zukunft einsetzen können.

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