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Umwertung der Psychoanalyse?

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Zu dem gleichnamigen Buch von Wilfried Da im. Verlag Herold, Wien. 364 Seiten,Preis S 62.—

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Zu dem gleichnamigen Buch von Wilfried Da im. Verlag Herold, Wien. 364 Seiten,Preis S 62.—

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Nach vielen Jahrzehnten eines wissenschaftlichen Separatismus scheint ein neues Zeitalter heraufzukommen, das, ohne noch zu den letzten Synthesen ermächtigt zu sein, trotzdem sich zum Anwalt madu der Konvergenztendenzen, die auch in weit auseinanderliegenden Wissensgebieten angelegt sind. Nichts Geringeres plant der Verfasser des vorliegenden Werkes als eine „Zueinander-6trukturierung von Psychoanalyse und Religion“. Wenn man bedenkt, wie sehr antireligiöse und antiethische Affekte, eingegangen in das Werk Freuds, seiner tiefenpsychologischen Lehre die biologistische Wendung abforderten, nur dann wird man das volle Gewicht einer solchen Planung ermessen können. Daß diese möglich, ja notwendig wurde, hat sehr präzise Voraussetzungen: die nämlich, daß Freuds Psychologie, unbeschadet vieler von ihr zuerst aufgezeigten Richtigkeiten, schließlich eingefügt ist in eine anthropologische Grundlehre überpsychologischer Herkunft, die der wahren Natur des Menschen Gewalt antut. Daß der Sinnbezug der Freudschen Funde ein fragwürdiges Menschenbild bildet, stellte den Sinn dieser Funde selbst in Frage, sogar dort, wo sie dem empirischen Verstand einleuchten. In ein höchst prekäre und zweideutige Lage ist so das Werk Freuds geraten: viele Richtigkeiten werden verworfen aus keinem anderen Grunde, als weil Freuds unformuliert wirksames Menschenbild rückwirkend sie entwertet, andererseits verführt die verweigerte Prüfung der anthropologischen Hintergründe Freuds seine Anhänger dazu, in sektiererisch anmutendem Dogmatismus seine Lehre bis in alle Einzelheiten absolut zu nehmen. Um so bedeutsamer ist der neue Lösungsversuch des Verfassers, der zwar die empirischen Feststellungen der Psychoanalyse in ihrer biologischen Tatsächlichkeit bestehen läßt, sie aber implicite durch eine neue Sinngebung radikal umwertet. Dies geschieht letztlich dadurch, daß 6ie in eine wirklichkeitsgemäßere Gesamtanschauung vom Wesen des Menschen eingestellt werden. Zum erstenmal wird der ernsthafte Versuch unternommen, die religiös-personale Grundnatur des Menschen und die tiefenpsychologischen Einsichten in seine apersonale Triebnatur aufeinander abzustimmen. Das merkwürdige Ergebnis eines pichen Versuches ist, daß die personale Grundstruktur des Menschen nicht anerkannt werden kann, ohne daß eben damit auch der apersonale Aspekt seiner Triebdynamismen eine Umwertung erfährt. Die uralte, und doch vom Ausgangsort der neuen Generation jeweils neue Norm des Menschen, seine onto-logische Gottbezogenheit, erschließt, als Richtbild und Existenzgrund der ins Werden gestellten Persönlichkeit begriffen, in einem Zuge den Sinn der heilen, aber auch den Widersinn der unheilen Seinsweise des einzelnen. Die Sinnerhellung dieses Widersinns könnte als die wissenschaftliche Leistung des gedankenreichen Werkes bezeichnet werden.

Drei Tatsachen: erstens: Schelers Aufweis einer „Absolutsphäre“ im Menschen; zweitens: die Möglichkeit des einzelnen, absolut zum Absoluten sich verhalten zu können, die von Kierkegaard zur Forderung erhoben wird; drittens: das erste Gebot im Dekalog, keine fremden Götter zu haben neben dem, der von sich sagt: ICH BIN, der ICH BIN — werden ineinandeigeschaut und von ihrer Verdichtung wird abgehoben die Fehlhaltung, die zum Wesen des gefallenen Menschen zu gehören scheint, daß er nämlich, die Ordnung entordnend, seine relative, nichtige Ichheit und im gleichen Zuge irgendwelche Modalitäten des Nichts zum Absoluten und das heißt: zum Gegengott oder Götzen erhebt. Superbia und irrendes Gewissen konkurrieren in dieser Verlagerung der Absolutsphäre. Diese Verlagerung schließt in sich eine illusionäre Umord-nung der wahren Verhältnisse, die Pseudo-schöpfung einer irrealen „ver-rückten“ Weltgestalt. Seines eigenen Bildes nur mehr in einer Verzerrung mächtig, sieht der einzelne in diese Trugwelt 6ich eingekerkert und zu Handlungen eines frevelhaften Götzenopfers verurteilt. Das Besondere seiner Lage indessen ist, daß der „wahre Zusammenhang“ — gemeint ist die strukturelle Verbindung der eigenen Seele mit Gott —, weil von ontologi-scher Unabdinglichkeit unterirdisch weiterbesteht, auch unter der Herrschaft falscher Verabsolutierungen. Den eigenen Existenzgrund nicht anerkennen, heißt ihn verdrängen. Zum Motiv der Verdrängung aber werden die Forderungen des „Götzen“, mit denen der einzelne sich identifiziert. Doch auch als verdrängter Inhalt bleibt die religiöse Urforde-rung weiter bestehen und begründet so den inneren Zwiespalt des Menschen, der sein personales Zentrum, sein Herz als die heilige Fähigkeit mit der absoluten Person zu kommunizieren in einer Desorientierung, die einer Verfälschung des Gewissens gleichkommt, an den Absolutheitsansprueh des Götzen als an einen seelenlosen Talmischatz verloren hat.

Eine Inadäquatheit also zwischen der zentralen menschlichen Anlage und den Weisen ihrer Durchsetzung und Verwirklichung tut sich auf in dieser Dialektik von „Gott und Götze“. Damit ist die Aufgabe vorgezeichnet, eine Psychologie bereitzustellen, die diesem Widerspruch zwischen Potenz und Aktus im Menschenleben gerecht wird. Diese Psychologie ist in ihren entscheidenden Ansätzen bereits existent: sie ist es als die „Tiefenpsychologie“ von Freud bis Jung, die sich als wahrhaft verstehende Psychologie auszuweisen hat. Soweit die Tiefenpsychologie die wahre Situation des Menschen adäquat zu verstehen vermag, ist sie im Recht; wo ihre Kategorien versagen, ist sie als inadäquate Methode zu überschreiten. Es mag dem Voreingenommenen überraschen, daß fast alle Kategorien der Tiefenpsychologie (das Unbewußte, die Libido-lehre, die Fixierung, die Komplexlehre, die Verdrängung, der Widerstand usw.) sich in die neue Sicht einbauen lassen, aber den Kundigen wird es mit Genugtuung erfüllen, daß die mühsam erworbenen Einsichten einer Generation hervorragender Forscher nicht als Ergebnisse eines denkerischen Leerlaufs abzu-tun sind.

Als Tiefenpsychologie bezeichnet der Verfasser „jenen Zweig der Psychologie, der die Gesetzmäßigkeit des Unbewußten und seine Auswirkung im -Bewußten zum Gegenstand hat“. Wenn das „Inadäquate“ als „inadäquater Affekt“, als „inadäquate psychische Leistung (Fehlleistung)“, als „inadäquate Merkung (Deckerinnerung)“ begriffen wird — mit einem Wort als Störung, die aus dem normalen Seelenleben ein abnormes macht —, so ergibt sich als Aufgabe der Therapie, das seelisch Inadäquate zu entfernen und aufzulösen. Führend für den Verfasser ist das Leitbild, das aufzulösen und zu beseitigen sei, die Grundperversion, das heißt die Inadäquatheit der menschlichen Beziehungen zum Absoluten. In sorgfältigen Einzeluntersuchungen wird gezeigt, daß die „Freudschen Entwicklungs-schemala durchaus ihre biologistische Einseitigkeit verlieren“, wenn man sie in die religiöse Anthropologie einbaut. Darum also geht es, die „Statik“ der Beziehungen von Gott und Götze einzubeziehen in die „Dynamik der menschlichen Entwicklung“, um so die Fixierungsstellen der Inadäquatheit aufzeigen zu können, die als das Schicksal der Absolutsphäre ihre jeweiligen Verlagerungen bezeichnen. Diese Verlagerungen ereignen sich im durchschnittlichen Werdegang des einzelnen als das Entwicklungsschidcsal von Ver-einigungs- und Verselbständigungstrieben, in welche Begriffe der Verfasser die libidinösen und die Ichtriebe Freuds transponiert.

Bedenken, die sich angesichts des kühnen Unternehmens melden, beziehen sich weniger auf die Übernahme der Freudschen Entwicklungslehre; denn wie bereits Kierkegaard einmal andeutet, bildet das Schicksal der Geschlechtsentwicklung wahrscheinlich die geheime Achse der individuellen Lebens-geschichte, und Engel mögen darum keine Geschichte haben. Allein die Aussagen über das „uterine Leben“, das „Trauma der Geburt“, die „orale, die anale, die ödipale Phase“ entbehren doch vielerorts der phänomenologischen Evidenz, um die es dem Verfasser geht. Um nur einen Punkt statt vieler zu erwähnen:

In der Zusammenstellung der Gegensätze zwischen der seelischen Zuständlichkeit im uterinen und im nachgeburtlichen Leben fällt auf, daß sie gegeneinandergestellt sind, zum Beispiel als „Dunkel“ und „Licht“, als „Wärme und Kälte“, als Wasser und Luft“ usw. Der Phänomenologe aber wird feststellen müssen, daß einer Dunkelheit, die nicht vom Licht abgesetzt ist, wie es im Mutterechoß der Fall ist, kein irgendwie faßbares Kriterium eignet, das als Dunkelheit angesprochen werden könnte. Da? aber gilt auch von der Wärme des uterinen Lebens und von den meisten der sonst noch erwogenen Bestimmungen. Es bleiben mit einem Wort in dem von Freud übernommenen Entwicklungsentwurf des Verfassers noch unentwickelt die phänomenologischen und vor allem die physiognomischen Kriterien, welche dem mit Fug und Recht in Analogien sich bewegenden Entwicklungsgedanken die volle Einsicht gewähren in den Tatbestand, daß die höheren Werdestufen in den niedrigeren bereits vorgebildet und vorgegeben sind. Aber diese fast vergessene Problematik neu angeregt zu haben, bleibt trotzdem des bedeutsame Verdienst des Werkes.

Da die spezifisch ärztlichen Gesichtspunkte dem Psychologen fernliegen, ist zu betonen, daß die vom Verfasser ausgebaute Seelenführung in erster Linie an den — medizinisch gedacht — Gesunden sich wendet, dessen Anliegen die Vertiefung, Verwesentlichung, Ver-eigentlichung seiner Existenz ist. „Krank“ allerdings und „gesund“ sind relative Begriffe. Und mit Sicherheit kann gesagt werden, daß der spezifische Irrtum, der den zünftigen Psychiater bedroht, die Neigung ist, einerseits den Bereich des Gesunden über Gebühr auszuweiten, andererseits da, wo seinem Verständnis eine Grenze gesetzt ist, diese Grenze mit dem Begriff der „konstitutionellen Psychopathie“ oder der „abnormen Erlebnisreaktion“ zu legitimieren. Die Gefahr des Psychologen hinwiederum ist, um des psychologischen Aspekts gewisser Störungen des Seelenlebens willen ihre somatische Bedingtheit zu verkennen. Um so dringender ist die Aufgabe, die im vorliegenden Werk in Gang kommt, die Konvergenz der Methoden mittels einer die Geistes- und die Naturwissenschaft umgreifenden, beiden Wissenschaften übergeordneten Grundlehre vom Menschen zu fördern.

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