Vietnam, Kosovo und so weiter?

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Einer norwegischen Autorin gelingt das Beste, was man mit einem Jugendbuch erreichen kann: Sie regt zum Denken an.

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Einer norwegischen Autorin gelingt das Beste, was man mit einem Jugendbuch erreichen kann: Sie regt zum Denken an.

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Jugendbücher müssen keine literarisch exquisiten Werke sein, um lesenswert zu sein. Ein nüchterner, werbender Ton kann hinreichen, um bei jungen Menschen eine Botschaft zu lancieren.

Von dieser Sorte ist ein schmales Buch der Norwegerin Unni Nielsen, geboren 1942: "Ein Dach in Brooklyn". Fünf Jugendliche geraten in den Sog des Vietnamkrieges. Wie im Musical "Hair" repräsentieren sie fünf Möglichkeiten, in den großen Schicksalszwang die kleinen Biographien hineinzuimprovisieren.

Die Fünf sind neunzehnjährige blonde blauäugige Norwegisch-Amerikaner, die als Akkordeon-Kameraden am Sonntag in der Kirche brav ihre Heimatlieder spielen. Als Typen sind sie klug gewählt: ein Munterer (Lars), ein Tiefsinniger (Ove), ein Spielerischer (Paul), ein Verträumter (Tore), ein Geschickter (Erik). Sie gruppieren sich um eine Gleichaltrige, die sich, mit biographischen Merkmalen der Autorin, angenehm zurückhaltend ins Geschehen mischt.

Man jobt, spielt Bach auf dem Akkordeon, liebt, kuschelt romantisch in einer engen Substandardwohnung, und oben drüber auf einem "Dach in Brooklyn". Sommer 1963: Handelsblockade gegen Kuba, verhinderte Bodenreformen in Honduras, Santo Domingo und Nicaragua, Krieg um Bananen in Grenada, überall Krisen in den "Hinterhöfen", und wachsende Rassenunruhen in den Zentren selbst.

Am 29. August hält Martin Luther King seine berühmte Rede "I have a dream". Aber Vietnam "ist noch nicht passiert", der Krieg der 16.000 amerikanischen Militärberater in Südvietnam ist noch heimlich, und die fünf Blauäugigen "weigern sich Dinge zu hören, die nicht mit Disney und dem Amerikanischen Traum übereinstimmen", sie träumen noch den alten Traum. Es ist Vor-Vietnamzeit.

Am 22. November wird Kennedy ermordet. Die private Romantik endet jäh, als unter Kennedys Nachfolger Lyndon Johnson der heimliche Krieg in Vietnam zum offenen wird. Der Spielerische und der Tiefsinnige werden einberufen, der Freundeskreis zerreißt. Aus dem Spiel des einen wird der Ernst des Scharfschützen, aus dem Tiefsinn des anderen die Spurtreue des Patrioten.

Der Geschickte meldet sich, im Land- und Luftkrieg schlau, zur Marine, der Muntere weicht in ein Uni-Studium aus, der Verträumte flieht ins Asyl nach Schweden. So sind hier die Grundmuster im Umgang mit der gesellschaftlichen Übermacht vertreten: Die Anpassung, das Ausweichen, die Flucht. Aktiver Widerstand wird nur exemplarisch eingeblendet: Muhammad Ali verweigert 1967 seinen Wehrdienst, "weil er nichts gegen Reisbauern, Großmütter und kleine Kinder in Vietnam" hat. Das kostet ihn fünf Jahre Gefängnis (die er allerdings nie absitzt), den Weltmeistertitel und die Boxlizenz für drei Jahre. Im Februar 1965 wird Malcolm X, der Widerstandsprediger der Black Muslims, erschossen. Im März beginnen die Bombardierungen Nordvietnams. Auch damals wollte man Verhandlungen herbeibomben, vergeblich. Die Gewalt eskaliert zu den "heißen Sommern" jener Jahre.

Das Jugendbuch analysiert nicht weiter, wird nicht lehrhaft, geht eher montessori-artig vor: wichtige Namen werden beiläufig genannt, Keime für weiteres Interesse ausgestreut, Idole von damals werden lebendig präsentiert, die Zeitgeschichte wird in der Wahrnehmung der Jugendlichen geschildert. Der derart angeregte junge Leser wird nachfragen: Wer war denn Malcolm X? Was ist Black Power? Was schreibt Muhammad Ali selber über seine Haltung? Wieso ist der Gitarrist Jimmi Hendrix in die Drogen geraten? Wie konnten schwarze Stars wie Mahalia Jackson, Harry Belafonte, Eldridge Cleaver auch bei den Weißen politisch wirksam werden? Worum ging es in den "heißen Sommern"? Wie ordnen diese weltordnend auftretenden USA die eigenen Rassenprobleme? Und dann eben: Wie ist der Vietnamkrieg ausgegangen?

Im Buch wird der Freundeskreis nur durch die Jahre 1963 bis 1968 verfolgt, bis zur Ermordung Martin Luther Kings, und bis zum Höhepunkt des Krieges, wenn 500.000 solcher Neunzehnjähriger im Einsatz sind und monatlich tausend Tote in body-bags von der Marine heimgefahren werden. Allein schon Skepsis über den Krieg macht sich jetzt verdächtig. Das FBI umschleicht das "Dach in Brooklyn" mit seinen politisch sensibilisierten Hinterbliebenen.

Das Schlußbild ist traurig. Der Tiefsinnig-Patriotische ist gefallen, der einst spielerische Schütze hat in Vietnam den Verstand verloren, ist verkindlicht, wird zum Pflegefall und stirbt an einer Überdosis Speed. Der Verträumte wartet fernab im schwedischen Exil, nur der Muntere und der Geschickte bleiben halbwegs unbeschädigt.

In einem Nachwort besucht die Autorin ihre Figuren 30 Jahre später und bilanziert die Spätfolgen des unsinnigen Krieges. Der Verträumte führt im neutralen Schweden ein friedliches Familienleben. Von den beiden im Land Übriggebliebenen ist der Muntere "nur noch bieder und handgestrickt", der Geschickte hat das Familienunternehmen übernommen, mit "Frau und zwei Söhnen, die noch zur Schule gehen". Vielleicht lernen sie von ihrem Vater die bittere Botschaft dieses Buches, daß "Vietnam ... im Grunde wohl nie ein Ende nehmen wird. Denn Vietnam ist eine Krankheit, die immer weitergeht, wie Krebs, wie Napalmverbrennungen, eine Krankheit der Seele, gegen die es kein Mittel gibt, so ist das mit allen Kriegen". Wie wahr!

Das Buch war Siegertitel eines Verlagswettbewerbs über die Haltung Jugendlicher und junger Erwachsener zum Krieg.

EIN DACH IN BROOKLYN Roman von Unni Nielsen Übersetzung: Gabriele Haefs Gabriel Verlag, Wien 1998 144 Seiten, brosch., öS 145.-/e 10,53

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