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1st der Zug ins Elend jetzt abgefahren?

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Vor 50 Jahren, am 21. April 1946, starb John Maynard Keynes. Kein Gelehrter unseres Jahr-hunderts hatte groGeren EinfluB auf die okonomische Praxis, dafur ist er heute vollig out. Er vertrat unter an-derem die Ansicht, daB die Staaten in der Krise mehr ausgeben und die Schulden im Aufschwung abtragen sollen.

Die Maastricht-Kriterien sind aus-gesprochen anti-keynesianisch ausge-legt. Sie begrenzen die Budgetdefizite mit drei Prozent der Bruttoinlands-produkte, weshalb bei sinkendem BIP die staatlichen Investitionen sogar noch weiter heruntergefahren wer-den miissen. (Das Abtragen der Schulden im Aufschwung versaumten die Politiker allerdings auch in der Zeit, in der ein Nixon sagen konnte: „Ei-gentlich sind wir alle Keynesianer!")

Keynes konnte sich mit Gleichgiil-tigkeit gegeniiber Massenelend nicht anfreunden und forderte das Eingrei-fen der Staaten angesichts der Mas-senarbeitslosigkeit der friihen dreifii-ger Jahre. Heute gilt, was bislang in Osterreich noch kaum so unverbliimt ausgesprochen wurde wie von Lise-lotte Palme im „Profil" vom 6. April („Biickkehr zum Existenzkampf"): Die Mehrzahl der Menschen habe nur noch „Lebenslaufe zu erwarten ... die bloB eine Abfolge von ertraglichen und schlechten Zeiten darstellen". Dieses Rezept sei zwar „brutal, doch der Zug ist abgefahren - nun gibt es kein anderes mehr."

Zu den theoretischen Leistungen Keynes' zahlt die Widerlegung der Auffassung, daB die Arbeitskrafte bloB gemigend billig werden miiBten, um die Vollbeschaftigung wieder her-zustellen - mit genau diesem Argu-

ment wettert heute eine Phalanx von Nationalokonomen und „Vertretern der Wirtschaft" gegen die angeblich zu hohen Lohne und Sozialleistun-gen. Keynes hob als erster die Bedeu-tung der Massenkaufkraft fur die Konjunktur hervor - heute vernich-ten Rationalisierungsinvestitionen und Sparbudgets um die Wette Jobs und damit Massenkaufkraft. Keynes wies bereits um 1930 nach, daB sich Marktwirtschaften sehr wohl in ei-nem Zustand stabilisieren kbnnen, der durch die Gleichzeitigkeit von Wachstum und Arbeitslosigkeit ge-kennzeichnet ist - heute wird welt-weit die (bereits im 18. Jahrhundert von Adam Smith abgelehnte) Be-hauptung Milton Friedmans nachge-plappert, man musse die Marktkrafte bloB sich selbst iiberlassen, um einen fur alle optimalen Zustand herbeizu-fuhren. Das keynesianische Instru-

mentarium der Investitionsanreize und der Konjunktur-Initialziindung durch staatliche Investitionen funk-tioniert wirklich nicht mehr. Trotz-dem hatte Keynes nicht unrecht. Zu seiner Zeit schufen Investitionen linear Arbeit.

Der Zuwachs an Produktivitat senkte aber so lange die Zahl der Jobs, die mit einem gegebenen Investitionsvolu-men geschaffen wurden, bis sich das Verhaltnis in immer mehr Branchen umkehrte: Man investiert - und pro-duziert mit weniger Arbeitskraften noch mehr.

Eine machtige Komponente der Abneigung, welche den Keynesianern bereits vor Thatcher und Reagan ent-

gegenschlug, waren der Egoismus „derer da oben" und ihre Blindheit dafiir, daB sie mit der Umverteilung zu ihren Gunsten die Kaufkraft „de-rer da unten" schwachen und den Nachfrageast absagen, auf dem sie als Produzenten sitzen. Die Folgen waren vorhersehbar, der Riickzug von immer mehr Kapital aus der Produktion in die Spekulation (mit Aktien, Wahrungen, Immobilien, Kunst ...) logisch.

Aus dem von Keynes postulierten „Gleichgewicht bei Unterbeschafti-gung" wurde etwas viel schlimmeres: Wir schaffen immer mehr Arbeit ab, ohne Hoffnung, daB die Unterbe-schaftigung dabei je ein Gleichge-wicht erreicht.

Der Name Keynes steht nicht nur fur ein obsolet gewordenes Rezept, sondern fur eine Haltung, die Arbeitslosigkeit und Elend als ethische

Herausforderung begreift, der mit den Mitteln der bkonomischen Theo-rie und der Politik begegnet werden muB.

Was heute gilt, lesen wir bei Lise-lotte Palme: Die Frage, ob gegen die Massenarbeitslosigkeit noch etwas zu machen sei, ist passe. Das Szenario der Arbeitsplatzvernichtung wird ex cathedra festgeschrieben, jede abwei-chende Meinung implizit fur inkom-petent erklart, ob einem diese „Er-kenntnis schmeckt oder nicht". Die nachtschwarze Prophezeiung wird dogmatisiert.

Es geht nur noch darum, wie die Menschen auf ihre Verelendung rea-gieren und ob sie sich wehren werden. Dabei wird uns beruhigende Kund-schaft: Sie sitzen vor der Glotze und haben keine Kraft mehr zum Wider-stand.

Immerhin erfahren wir, warum es so gekommen ist: Weil „die Eli ten des Westens die Globalisierung zum Wert an sich erhoben haben". Damit ist endlich ausgesprochen, daB die Globalisierung gar nicht als Vehikel zum groBtmoglichen Wohlstand der groBtmoglichen Zahl, sondern zum groBtmoglichen Wohlstand der Eli-ten des Westens gedacht war und auf einer politischen (wenn auch gewifi keiner demokrafischen) Entschei-dung im Sinne ihrer Interessen be-ruhte. Haben wir es uns doch gedacht! Hoffentlich gilt nicht dasselbe fur die EU und fur das Gatt, das jetzt WTO heifit.

Auch, warum John Maynard Keynes 50 Jahre nach seinem Tod so out ist, wird uns nun klar. Was man ihm heute so iibel nimmt, ist nicht, daB seine Rezepte im Lauf dieser 50 Jahre immer mehr Wirkung verloren, sondern daB er es wagte, die bis dahin brav den Reichen dienende burgerli-che Nationalbkonomie ohne Abstri-che von der wissenschaftlichen Ge-nauigkeit in die ethische Pflicht zu nehmen.

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