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Die neue Armut sieht uns an

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In der alten Kreuzfahrerstadt Ramie schliefen in der Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni 1962 389 Häftlinge im israelischen Zentralgefängnis. Sie wußten nichts von den Vorgängen um Mitternacht im mittleren Flügel des düsteren, zweistöckigen Baues, der früher als Polizeibastion gedient hatte. Hier wurde Adolf Eichmann vom Leben zum Tod gebracht. Vier Stunden vor seinem letzten Gang hatte er erfahren, daß sein Gnadengesuch vom Staatspräsidenten Israels abgelehnt worden war. Eichmann nahm die Nachricht kühl auf, sagte „jawohl“, wie er tausendmal „jawohl“ gesagt hatte in seinem Leben, und leerte eine halbe Flasche Rotwein — er hatte in den letzten Tagen seine Lieblingsspeise, Apfelstrudel, verlangt und erhalten. Diese Tage verbrachte er mit dem Lesen deutscher Kriminalromane und schrieb Briefe. Die Gespräche mit dem kanadischen Pastor Hüll, die er 2uvor mehrfach unterhielt, brach er ab. Er empfand keine Reue, erklärte er, kein Bedürfnis, zu Jesus zurückzukehren, an den er nicht glaube, ließ, wie die gesamte Weltpresse berichtete, die drei Länder Deutschland, Argentinien und Oesterreich hochleben und ging dann in seinen Tod. Keiner der drei Gefängnisbeamten wußte, welcher der drei Schaltknöpfe, die er bediente, die Hinrichtung auslöste. Der bürokratischen Prozedur wohnte außer dem Delinquenten und den Gefängniswärtern der Kommandant des Gefängnisses, ein Vertreter der Ortsverwaltung, ein Arzt, zwei Polizisten und Pastor Hull bei.

Eichmann hatte selbst die Verbrennung seiner Leiche gewünscht. Nichts deutet darauf hin, daß er diese Bestattungsart in Zusammenhang mit den in den Öfen verbrannten Kindern, Frauen, Männern, Greisen sah. Nichts deutet darauf hin, daß er eine Schuld seiner Person einsah. Adolf Eichmann teilt dieses NichtSchuldgefühl, seine seelische Phantasielosigkeit, seine große Armut im gesamten seelischen Bereich mit vielen Millionen Menschen unserer Zeit. Mit Millionen Zeitgenossen,: die sich als -„nichtschuldig“ errrpfitfaemfü-das, was sie in .den Kriegen ritMHk Bürgerkriegen unserer Zeit ihren Mitmenschen und sich selbst, ihrer Seele, angetan haben In diesem ernsten und nüchternen Sinn ist das Sterben des Adolf Eichmann eine Chiffre für viele Menschenleben in unserer Zeit.

Ganz inkommensurabel, ganz , unvergleichbar ist dieser bürokratische Tod mit dem Sterben der Millionen Juden zuvor, die durch die riesige Maschinerie, in der sich Eichmann selbst nur als ein Rädchen empfand, obwohl er ein Motor war, zermalmt wurden oder in sehr persönlicher Art zu Tode gequält, geschunden wurden.

Die israelischen Tageszeitungen befürworteten recht einstimmig, von der extremen Rechten bis zu den Kommunisten, die Urteilsvollstreckung: „Hier handelt es sich nicht um einen Racheakt, denn es gibt keine Rache für die Ausrottung von sechs Millionen Juden — einem Drittel des jüdischen Volkes. Hier handelt es sich um einen Akt der Gerechtigkeit. Ein Massenmörder erhielt seine gerechte Strafe.“ Das ist die communis opinio, eine auch bei uns weitverbreitete Meinung über die „Notwendigkeit“ der Todesstrafe, wie wir sie aus den langjährigen Diskussionen über die Todesstrafe in den letzten Jahren in Österreich kennen. Eine kleine qualifizierte Minderheit, zu deren Sprecher sich Martin Buber, der große religiöse Denker, einige Professoren und Intellektuelle und eine Dichterin machten, hatten den israelischen Staatspräsidenten gebeten, das Urteil an Eichmann nicht zu vollstrecken, sondern ihn an andere Staaten auszuliefern. Wir hatten in der „Furche“ eine ähnliche Haltung vertreten. Wir haben sie nicht geändert.

Adolf Eichmann ist tot, seine Asche im Meer versenkt. Uns Überlebende sieht er aus vielen Gesichtern ins eigene Gesicht: ruhig, kühl, kalt, unberührt, unbewegt durch das Sterben des Mitmenschen nebenan. Deren Kreuz wird einfach „übersehen“. Wie das Kreuz des Gottmenschen. Adolf Eichmann hat in diesem Sinne konsequent abgelehnt, Jesus von Nazareth wahrzunehmen; diese Wahrnehmung hätte ihm genau dies gekostet: die Einsicht in seine Verbindung mit den Menschen, von deren Sterben in den zwei Jahren und zwanzig Tagen seit seiner Gefangennahme am 21. Mai 1960 so viel die Rede war. Wissen wir, die wir uns Christen nennen, was wir tun, wenn wir uns mit Wort und Sang — jetzt zu Pfingsten 1962 — zu dem Gekreuzigten bekennen und an dem seelisch armen, vielleicht todwunden Mitmenschen vorübergehen? Mit kalten Augen sehen Millionen Zeitgenossen Eichmanns aneinander vorbei. Aus den Augen des Adolf Eichmann sieht uns die neue Armut erschreckend an; die Armut des Menschen, der sich „nichtschuldig“ weiß.

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