6581542-1951_20_15.jpg
Digital In Arbeit

Ein nordischer Barabbas-Roman

19451960198020002020

Von PSr lagerquist. Verlag Bonnler, Stockholm. Deutsche Übertragung von Eduard Schärpe r. Im Verlag der Arche, Zürich. 220 Selten

19451960198020002020

Von PSr lagerquist. Verlag Bonnler, Stockholm. Deutsche Übertragung von Eduard Schärpe r. Im Verlag der Arche, Zürich. 220 Selten

Werbung
Werbung
Werbung

Zu Weihnachten 1950 lag in den Auslagen der Stockholmer Buchhandlungen das neue Werk von Pär Lagerquist „Barabbas“, das schon damals durch seine schnell ansteigende Auflagenzahl überraschte. Heute, fünf Monate später, hat es fast das 60. Tausend erreicht und steht, wie kein anderes Werk der schönen Literatur Schwedens, im Mittelpunkt des Interesses. Wie konnte das mit einem so schmalen Buch — 200 Seiten — geschehen? Welche Umstände spielten mit, die ihm einen solchen Vorrang verschafften?

Die Erzählung handelt von dem Aufrührer und Mörder Barabbas, der nach dem Bericht sämtlicher Evangelien von Pilatus freigegeben wurde, weil das Volk, das zwischen Christus und ihm die Wahl hatte, sich für ihn ent-sdiied. Es ist begreiflich, daß die Stellung dieser Figur in der Heilsge6chichte schon deshalb zur Darstellung anregt. Pär Lagerquist hält sich an den biblischen Bericht, doch spinnt er die Fabel auf eigene Weise weiteT fort. Barabbas wird Zeuge der Kreuzigung und kann, obzwar ohne Glauben, von diesem Ereignis nicht mehr loskommen. Er haßt die Welt, er haßt den Schöpfer, er mag die Gläubigen nicht, weder ihre Gemeinschaft noch ihren Kult, und will nicht anerkennen, was diese behaupten: daß ihr Herr Gottes Sohn sei und daß er auferstanden sei und daß sich daraus die Folge ergebe, einander zu lieber. All das ist ihm fremd, ja zuwider. Er bleibt der Mann, der „sich selbst 6ein will und sonst nichts“. Aber das Schicksal und eine Ihm selbst zweifelhafte Neigung bewirken es, daß er immer in den Kreis der lächerlichen und unliebsamen Christen gerät. In Jerusalem begegnet er ihnen, die ihn wegen 6einer — un-versduildeten — Beziehung zu ihrem Gott meiden, und in der Tiefe des Kupferbergwerks von Zypern arbeitet er als Sklave zusammen mit einem an ihn Geketteten: mit Sahak, den Christen. In diesem Gegenspieler zeichnet Pär Lagerquist den Begnadeten, durch dessen Einfalt dem widerwilligen Barabbas sogar etwas wie ein gemeinsames Knien und Beten gelingt. Doch schnell erweist sich diese Gemeinschaft als Täuschung. Sahak wird des verbotenen Glaubens überführt, und da er sich nicht zu dessen Preisgabe entschließen kann, vom Prokurator zum Tod auf dem Kreuz verurteilt, Barabbas macht sich vom Verdacht der Mitwisserschaft frei: er 6ei kein Chri6t, sondern „möchte gern glauben“. Schließlich kommt er nach Rom. Aber da gerät er, halb mit, halb ohne Willen, in den Brand, den Nero angelegt hat und den Christen zuschiebt. Er beteiligt sich daran wie ein Pyroman einer falsch verstandenen Parole: die verhaßte Stadt 6oll brennen, um einer besseren Platz zu machen. Auf der Tat der Brandstiftung ertappt, wird er verhaftet und muß nun, gemeinsam mit unschuldigen Christen, eben den Tod am Kreuze erleiden, dem er ein6t entronnen ist. Das Kreuz bleibt Barabbas' Schicksal. •

Schon unmittelbar nach Erscheinen des Buches war man von der geheimen Bedeutung betroffen, die sich in dieser grandiosen Legende zu verbergen schien. Ein allgemeines Rätselraten setzte ein. Gab sich vielleicht ein eretes Bekenntnis des Diditers darin kund, der sich seit Jahrzehnten auf der Schneide zwischen Glauben und Unglauben bewegt? Der religiöse Impuls konnte ja nicht geleugnet werden. Oder war es gerade eine neue Absage an die christliche Welt — trotz der Sympathien, die Pär Lagerquist noch nie so deutlich hatte merken lassen? Noch im März 1951 ging der öffentliche Meinungsstreit weiter. Ein Lyriker, der weder das eine noch das andere gelten ließ, erkannte auch dem Werk einen höchsten Wert zu: er nannte es, vielleicht zu hymnisch, „finsternisumstrahltes Evangelium“.

Wir haben die Vision eines dunklen Gewalttäters vor uns, der in seiner verhaltenen oder offenen Heftigkeit ebenso an die Brutalität eines Rohlings wie an die titanische Unseligkeit eines Kains erinnert. Die Absicht, die Figur ohne jede Besdiönigung darzustellen, ist so stark, daß sie bis tief in die Diktion reicht. Der heute vielleicht größte Prosakünstler Schwedens gibt seine klassische Sprache preis, um sich seitenlang in den Verbrecherjargon seines Helden oder dessen Milieu zu verlieren.

Barakbas ist der primitiv Glaubenslose. Wundererscheinungen gelten ihm natürlich als Einbildung. Als er zum offenen Grab kommt, wo der Stein weggewälzt i6t, heißt e6: „Aber später erwähnte er (Barabbas) zum Beispiel, daß so etwas wie die Auferstehung für ihn schwer zu fassen sei... Er glaubte nicht, daß es einen gab, der auferstanden war von den Toten...“ Eine Parallele fällt hier auf. Der Freidenker Professor Hedenius hatte 1949 in seinem vielbesprochenen Buch „Tro och vetande“ — „Glauben und Wissen“ — geschrieben: „Die einzige Ursache, die die Freidenker, für ihre Verneinung des Auferstehungswunders haben, ist eben der banale Hinweis auf ein allgemein geltendes Naturgesetz, daß tote Körper tot bleiben.“ Eine ähnliche Formulierung finden wir bei „Barabbas“. „Daß der Tot nicht auferstehen konnte von den Toten, das wußte er ja gewiß;.. Das hatten natürlich die Jünger getan, während der Nacht... Im Schutz der Finsternis hatten sie ihren teuren, verehrten Meister geraubt, um später sagen zu können, er wäre auferstanden, gerade so, wie er es gesagt hatte ...“

Der Held wehrt alles ab, was auf Glauben Anspruch erhebt, und er tut es mit derselben Selbstsicherheit wie die Zweifler aller Jahrhunderte. Eine Milderung tritt nur ein — und das scheint charakteristisch für diese Art der Verneinung —, wenn er die Konsequenz seiner Gebundenheit an das Diesseits erfährt: den- Ausbruch des Höllen-Daseins. Als der Aufseher der Kupfergrube, der nach dem Vorbild eines KZ-Capos gebildet sein mag, die auf den Knien Betenden halb zu Tode peitscht — fühlt sich Barabbas eines Sinnes mit den Gläubigen. „Es war das erstemal“, heißt es da, „daß Barabbas für den Gekreuzigten litt...*

Wir können freilich nicht annehmen, daß Pär Lagerquist sich selbst in den Aussagen des primitiven Wesens darstellen wollte, da6 Barabbas ist. Es kann sich also kaum um ein „Selb6tporträt“ des Dichters handeln, wie es viele Kritiker wahrhaben wollen. Bei einem Werk, da6 sein Recht, tendenzlos zu sein, behauptet, wie dieses, kann auch' nicht von „Stellungnahme“ gesprochen werden. Und doch wird man nicht davon absehen können, daß sich trotz der kunstvollen Objektivierung dieser Gestalt etwas sehr Persönliches, den Dichter tief Angehendes in ihr verbirgt. Was ist es?

In der finsteren Verzweiflung, in der Gebundenheit an die Realität, in der brüsken Abwehr, die den Helden kennzeichnen, darf man Regungen vermuten, die dem Verfasser zu schaffen machen — sonst würde er, wie der Stil zeigt, nicht so leidenschaftlich daran beteiligt sein. Pär Lagerquist kommt von einem Jahrhundert her, wo die Alleinherrschaft des Ich als Grundbedingung der geistigen Existenz gefordert wurde. Das „Sich-selb6t-genug-Sein“ Peer Gynts findet sich im „Sich-selb6t-sein-Wollen und nichts anderes“ des Barabbas seine Fortsetzung. Dieses Festhalten am Ich bedeutet eine ständige Abwehr gegenüber allem, was dessen Existenz bedroht, und da da6 Wesen der christlichen Haltung gerade darin besteht, das Samenkorn des natürlichen Ich sterben zu lassen, so ergibt sich daraus die Spannung, womit die Atmosphäre des Buches geladen ist. Der Glaube ohne freigeistige Kontrolle oder das überströmende Gefühl, das in der Seligkeit schwelgt, sich aufgeben zu dürfen, werden hier als Zumutungen empfunden, wobei immer Abwehr einsetzt. L'nd weil diese Abwehr sich mit Heftigkeit vollzieht, so wird sie dem Gewalttäler Barabbas in den Mund gelegt. Daß seine Worte dabei gegenüber Dingen, die einem großen Teil der Menschheit heilig sind, nicht gewogen werden und also oft als reine Blasphemien auftreten, entspricht der Natur des Prozesses: der Diditer muß sich auseinandersetzen mit der Welt des Christentums. Er tut es mit einer Ehrlichkeit des Bekenntnisses, die ihm zugute zu halten ist, und zugleich mit einer Kunst, die dieses merkwürdig dunkle Bild gleichsam für viele gemalt sein läßt.

Pär Lagerquists Buch kommuniziert nämlich mit der geistigen Situation de6 heutigen Schweden. Der „Kulturradikalismus“, dem die Mehrzahl der Gebildeten angehört und der besonders an den Universitäten unter Studenten und Lehrern Anhänger hat, spielt eine dominierende Rolle. Er ist ohne Glaube und oft antichristlich, zeigt aber eine stark humanistische Seite — ähnlich dem französischen—, die sich in der Achtung vor dem sozial Guten und echter Uberzeugungstreue äußert. Obzwar Barabbas' Gestalt nicht Kultur symbolisiert, sondern eher eine Art Urmenschentum, so findet diese Gruppe gerade in seiner wuchtigen Primitivität ihre eigene Haltung wieder.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung