Zwischen Charisma und Ideologie

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Der mündige Bürger fragt mehr und mehr nach dem Nutzen staatlicher Bevormundung. Die Antwort kommt zögerlich.

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Der mündige Bürger fragt mehr und mehr nach dem Nutzen staatlicher Bevormundung. Die Antwort kommt zögerlich.

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Regelmäßige demoskopische Untersuchungen wollen mit der berühmten Sonntagsfrage herausfinden, für welche politische Parteien die Wählerinnen und Wähler stimmen würden, stünde ein Urnengang unmittelbar bevor. Nur geringe Aufmerksamkeit findet hingegen die längerfristig sicherlich bedeutendere Frage, aus welchen grundsätzlichen Überlegungen die individuelle Wahlentscheidung erfolgt. Besteht eine ideologisch geprägte, krisenfeste Bindung an eine Partei? Bietet eine politische Gruppierung ihren Anhängern bestimmte persönliche Vorteile, die die Stimmabgabe beeinflussen? Entscheidet das Charisma oder das Abstimmungsverhalten des Wahlkreiskandidaten? Erfolgt die Wahl auf Grund der Handlungsweise der Parteien im allgemeinen oder in bestimmten Sachfragen? Oder wird dem "geringsten Übel" der Vorzug gegeben (etwa um andere Parteien zu bestrafen)? So unterschiedlich sind die Motive.

Es ist demokratiepolitisch nicht ohne Bedeutung, welche Überlegungen in den Ländern mit frei gewählten Volksvertretungen dominieren: Starke Bindungen durch ideologische Fixierung oder persönliche Abhängigkeit schaffen politische Beständigkeit und Stabilität, verleiten jedoch zugleich zu Unbeweglichkeit, verdecken Verfehlungen und verpassen die notwendige Adaption an geänderte Bedingungen. Daraus ergeben sich langfristig ernste Gefahren, die - wie Beispiele aus der Geschichte zeigen - zum Systemzusammenbruch führen können.

Besteht die überwiegende Mehrheit aus unabhängigen Wählerinnen und Wählern, die von solchen dem Feudalismus entlehnten Bindungen unbelastet sind und sich primär von der Persönlichkeit der Kandidaten oder der performance der Parteien leiten lassen (das einschlägige Lehnwort kommt nicht zufällig aus dem Englischen), ist die Gefahr der Erstarrung nicht gegeben. Allerdings werden die Parteien, die ja wiedergewählt werden wollen, unter diesen Prämissen eher vor jenen unpopulären Maßnahmen zurückschrecken, deren positive Auswirkungen in der laufenden Legislaturperiode noch nicht zu erwarten sind. Daß dabei demokratische Tradition und politische Reife eines Volkes eine wichtige Rolle spielen, steht außer Zweifel.

Die politische Landschaft Österreichs war lange Zeit durch eine starke Bindung des Wahlvolkes an eine bestimmte politische Partei charakterisiert, die eine identitätsstiftende Gemeinschaft bot und bei der man zugleich auch seine persönlichen Interessen gut aufgehoben wußte. Die Einordnung erfolgte hauptsächlich durch Herkunft, Berufsinteresse und nach Bevorzugung, die die eine oder die andere Partei offerieren konnte. In unserem Land ist die Vielfalt solcher Begünstigungen einzigartig: Parteinahe, aus öffentlichen Mitteln hochsubventionierte Institutionen beschaffen für ihre Klientel Kindergartenplätze, privilegierte Arbeitsmöglichkeiten im geschützten und quasigeschützten Sektor ebenso wie Wohnungen, offerieren günstige Sport- und andere Freizeitaktivitäten, unterhalten Beratungsdienste und Clubs - selbst für Autofahrer! - und sogar einen Sterbeverein.

Weite Bereiche des Wirtschaftslebens waren lange Zeit unangefochtene Domäne der Politik - das betraf die einst so mächtige Verstaatlichte Industrie und den "Konsum" ebenso wie die durch die protektionistische Marktordnung geschützte Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte. Nach Privatisierung und Liberalisierung - beides durch fehlende Konkurrenzfähigkeit oft gegen erbitterten Widerstand erzwungen - ging dieser Einfluß verloren. Andere Sektoren wie die Energiewirtschaft, das Kommunikationswesen, Radio und Fernsehen, Banken und Versicherungen werden schrittweise aus dem geschützten Bereich vertrieben und müssen sich früher oder später dem internationalen Wettbewerb stellen. Die Finanznöte der öffentlichen Hand werden die Bemühungen, politischen Einfluß durch Subventionen an parteinahe Institutionen zu sichern, in Grenzen halten.

Damit nimmt die an individuellen Vorteilen orientierte Bindung der Wählerinnen und Wähler an eine bestimmte politische Partei allmählich ab. Ebenso verlieren die Ideologen, die in der Vergangenheit eine mitunter verhängnisvolle Rolle in Österreich gespielt haben, an Bedeutung, da technischer Fortschritt und Globalisierung pragmatisches Handeln erzwingen. Zugleich werden alte Widersprüche - etwa zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zwischen Stadt und Land oder zwischen den Konfessionen - reduziert oder überhaupt belanglos; neue Gegensätze - wie zwischen Berufstätigen und Arbeitssuchenden, Jung und Alt, Familie und Singles - entstehen. Die Interessen dieser Gruppierungen lassen sich aber parteipolitisch nicht mehr in gewohnter Eindeutigkeit zuordnen.

Im Laufe dieses zweifellos langfristigen und keineswegs abgeschlossenen Prozesses wird das Wahlverhalten immer mehr von der Persönlichkeit der politischen Verantwortungsträger und ihren konkreten Entscheidungen abhängen. Die Zahl der Wechselwähler steigt.

Die Reaktion der Politiker auf diese Entwicklung ist unterschiedlich. Quer durch die politischen Parteien versuchen noch immer einflußreiche Kräfte, alte Strukturen durch hinhaltenden Widerstand unter Ausnützung ihrer intakten Machtbasen so lange es geht zu verteidigen. Sie können damit zwar punktuell noch einige Zeit Erfolg haben, stehen aber letztlich auf verlorenem Posten. Es ist anzunehmen, daß die meisten Politiker das wissen, doch nur wenige sind heute schon bereit, dies offen auszusprechen.

An dieser irreversiblen Entwicklung hat der europäische Integrationsprozeß entscheidenden Anteil: Der starke Wettbewerbsdruck führt zu einem weiteren Aufbrechen politisch kontrollierter Monopole. Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion wird diesen Trend beschleunigen. Und selbst wo die Entscheidung auch weiterhin allein auf nationaler Ebene fällt, beginnt der mündig gewordene Bürger nach dem Nutzen staatlicher Bevormundung zu fragen und sich seiner Eigenverantwortung stärker als zuvor bewußt zu werden. Das ist - bei aller Verunsicherung in einer schwierigen Übergangsperiode, die auch vorübergehende Rückschläge bringen kann - ein unschätzbarer Vorteil der EU-Mitgliedschaft eines Landes, dessen Bevölkerung seit Generationen viel zu sehr der regulierenden Allmacht von "Vater" Staat vertraut hat.

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