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Mehr Offenheit und Flexibilität

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Mit Ohnmachtsgefühlen und tiefer Verunsicherung begegnen immer mehr Menschen unserem politischen System: Die traditionellen Parteien sind herausgefordert.

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Mit Ohnmachtsgefühlen und tiefer Verunsicherung begegnen immer mehr Menschen unserem politischen System: Die traditionellen Parteien sind herausgefordert.

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Im Gegensatz zu manchen verniedlichenden oder monokausalen Erklärungsversuchen, die etwa Unbehagen an und mit der Politik lediglich als Folge von Korruption oder „natürlichem Generationenkonflikt" deuten wollen, muß eingangs festgehalten werden, daß komplexe sozio-ökono-mische Wandlungsprozesse — und deren psychosoziale Begleiterscheinungen — den Hintergrund und Nährboden für wachsendes Unbehagen in vielen politischen Systemen bilden.

Kritik an und Unbehagen über Parteien ist eine, wenn auch bedeutende Facette dieses gesamtgesellschaftlichen Wandels, darüber hinaus aber auch direkte Folge der Politik der Parteien selbst.

Die Parteien als die Träger des politischen Lebens in Österreich schlechthin reagieren auf diese neuen Herausforderungen im wesentlichen mit Rezepten der Vergangenheit. Worin besteht nun dieser „alte Weg", der Unbehagen und Protest provoziert?

Die Parteien haben den Rückgang an ideologischen Deutungsmustern der Politik durch eine Perfektionierung ihres Service-und Betreuungsapparates kompensiert. Damit ist die Ausweitung ihres Einflußbereiches auf nahezu alle Lebensbereiche einhergegangen.

Die österreichischen Großparteien haben in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr die Merkmale von „Allerweltsparteien" angenommen. Dieser langsame, aber dennoch kontinuierliche Prozeß der Aufweichung historischer, starrer Lagergrenzen wäre grundsätzlich positiv zu bewerten, wenn die damit verbundenen Chancen zu mehr Flexibilität und Offenheit des politischen Systems, zu neuen Partizipationsmöglichkeiten für den einzelnen auch tatsächlich genützt würden.

Indes, die Entwicklung des politischen Systems ging hierzulande in eine andere Richtung: Verfestigte Konfliktlösungsmuster „oben" und politische Apathie „unten" deuten darauf hin, daß sich das System schrittweise in Richtung einer „entpolitisierten Demokratie" bewegt.

Dabei ist prinzipiell zwischen drei Ausdrucksformen von Protest und Unbehagen zu unterscheiden:

• Noch drinnen, aber bereits halb draußen: Bei dieser Gruppe handelt es sich um Personen, die Mitglieder in einer etablierten Partei und gleichzeitig außerhalb der formellen Institutionen, z. B. in Bürgerinitiativen, politisch aktiv sind. Nach empirischen Studien beträgt ihr Anteil zirka 15 Prozent der Bevölkerung; ihre Zahl ist allerdings - infolge der wachsenden Kritik an der innerparteilichen Demokratiequalität und der Attraktivität direkt-demokratischer, spontaner politischer Aktivitäten - im Steigen begriffen.

• Ganz draußen: Hier handelt es sich um den Kern der „Postmaterialisten", also jene Gruppe von rund 15 Prozent der Bevölkerung, die nicht Mitglied in den etablierten Parteien ist, sondern alternativen Gruppierungen oder Bürgerinitiativen angehört beziehungsweise gänzlich ungebunden ist.

• Noch drinnen, aber unzufrieden: Eine Gruppe, die bei der Erörterung von Unbehagen an den

Parteien meist übersehen wird, sind jene Personen, die formell Mitglied in einer Partei sind, in Wahrheit aber ein immer distan-ziert-kühleres Verhalten zeigen.

Unter der Oberfläche einer 92prozentigen Zustimmung für die etablierten Parteien bei der Nationalratswahl 1983 ist nicht zu verkennen, daß die ideologischenthusiastische Zustimmung zu den Parteien vielfach einer kritischen Loyalität, bis hin zu einer apathisch-opportunistischen Zustimmung, gewichen ist.

Die Parteien, und im folgenden wird primär die ÖVP betrachtet, haben prinzipiell zwei Optionen, auf das „Unbehagen im Parteienstaat" zu reagieren. Auf der einen Seite bietet sich eine technokratische Akklamationsstrategie an, die eher zur Verfestigung des Unbehagens, ja zur Stärkung alternativer Gruppierungen beitragen würde.

Andererseits wäre eine globale Partizipationsstrategie möglich, die dem wachsenden Bedürfnis nach Dezentralisierung, Selbstorganisation und ganzheitlicher Lebensgestaltung Rechnung trägt.

Technokratische Strategien zeichnen sich dadurch aus, daß sie punktuell, strukturkonservierend und medial orientiert sind.

Ein Beispiel: Der Beschluß der ÖVP-Bundesparteileitung vom Februar 1982, führende Politiker aus den Organen gemeinnütziger Wohnbaugenossenschaften zurückzuziehen, erfolgte als Reaktion auf Geschehnisse rund um den WBO-Skandal.

Weitere typische Beispiele für eine technokratische Reaktion auf wachsendes Unbehagen sind die ständige Gründung neuer „Denk-Tanks", wie zuletzt das „Forum 90" oder die „Zukunftskommission" der ÖVP oder die Erstellung von Wahl- und Aktionsprogrammen an den Mitgliedern vorbei („Manifest zum Lebensgefühl"). Dadurch wird die ohnehin apathische Parteiorganisation weiter entmündigt und für politisch inkompetent erklärt.

Das Gegenteil dieses Weges, die globale Partizipationsstrategie, müßte zwei untrennbar miteinander verknüpfte Elemente umfassen: auf der einen Seite parteiinterne und gesamtgesellschaftliche Maßnahmen zur Förderung der politischen Aktivität von Parteimitgliedern und der Bevölkerung und — damit einhergehend — aber auch Schritte zur Reduzierung der Gesellschaftsdurchdringung durch die etablierten Parteien.

In die Kategorie „Förderung der Mitgliederaktivität" fällt zuallererst eine intensive Auseinandersetzung der Parteiführung mit dem Phänomen der wachsenden Apathie der Parteimitglieder. Kern- und Angelpunkt dieser Überlegungen ist die Frage „Warum brauchen wir Mitglieder?", deren Beantwortung überfällig scheint.

Diese Überlegung würde dazu führen, den Katalog von Rechten und Pflichten des einfachen Mitglieds zu überdenken und stärker an „politischen Kriterien" zu orientieren.

Ein sicherlich bemerkenswerter Versuch, diesen Weg einer qualitativen Mitgliedschaft zu gehen, ist das Bemühen der ÖVP Wien, von der „Mitglieder- zur Mitarbeiterpartei" zu gelangen. Durch überschaubare, inhaltlich neu geordnete Parteistrukturen und konkrete, wenn auch von „oben" angeregte Initiativen und Arbeitsaufträge soll eine neue Generation politisch bewußter und aktiver Parteimitglieder heranwachsen.

Der zweite Ansatzpunkt zum Abbau von Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Politik liegt in koordinierten, aber gleichwohl entschiedenen Schritten des Rückzugs der Parteien aus verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen: aus der Wirtschaft, dem öffentlichen Dienst, dem Schulwesen, dem Medienbereich, dem Wohnungswesen oder der Subventionsvergabe.

Ein Punkt schließlich verdient besondere Beachtung: jede noch so ernst gemeinte Strategie für verstärkte Teilnahme der Bürger am politischen Geschehen erweist sich dann als weitgehend wirkungslos, wenn nicht auch Partizipationsbarrieren, seien sie so-zioökonomischer oder rechtlicher Natur, gesenkt werden.

Von größter Relevanz sind dabei verstärkte Demokratieanreize im unmittelbaren Lebensbereich des einzelnen, insbesondere in der Gestaltung der Wohn- und Arbeitsumwelt, da einmal erlangte Partizipationskompetenz in diesem Bereich irreversibel ist und sich auch auf andere, „abstrakte" Bereiche wie die Politik überträgt.

Der Autor war politischer Referent der OVP-Bundesparteileitung (1981-1983) und arbeitet nun am Internationalen Institut für Systemanalysen (IIASA) in Laxenburg bei Wien. Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Aufsatzes in „österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft". 1/1984.

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