Anton Drobovych - © Foto: Stefan Schocher

"Die gemeinsame Geschichte mit Russland ist großteils ein Fluch"

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Anton Drobovych, Leiter des Instituts für Nationale Erinnerung in Kiew, über die gemeinsame ukrainisch-russische Historie als Belastung – und die Folgen der Eskalation in Nahost für sein Land und die Kulturpolitik.

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Anton Drobovych, Leiter des Instituts für Nationale Erinnerung in Kiew, über die gemeinsame ukrainisch-russische Historie als Belastung – und die Folgen der Eskalation in Nahost für sein Land und die Kulturpolitik.

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Das Institut für Nationale Erinnerung ist das Kernstück der Ukraine, wenn es um die Interpretation der eigenen Geschichte abseits russischer Narrative geht. Nach der Maidan-Revolution fielen Entkommunisierung sowie die Öffnung der KGB-Archive in Kiew in die Verantwortung des Instituts. Heute sind es Entrussifizierung und Entkolonialisierung. Ein Gespräch mit Institutsleiter Anton Drobovych.

DIE FURCHE: Die Ukraine gerät angesichts der Eskalation in Nahost unter Druck, Aufmerksamkeit auf ihr unmittelbaren Bedürfnisse lenken zu müssen: nämlich Waffenlieferungen. Besteht die Gefahr, dass dafür die Kulturpolitik geopfert wird?
Anton Drobovych: Indem unsere Armee den neuen russischen Imperialismus zurückhält, verringert sich das Risiko, dass die Armeen unserer Partner dies morgen tun müssen. Einige der Partnerländer sind nicht in der Lage, militärische Hilfe zu leisten und haben uns in sozialen, medizinischen und kulturellen Belangen unterstützt. Dass das Risiko eines Rückgangs der nichtmilitärischen Finanzhilfe steigt, ist allerdings eine dramatische Situation.

DIE FURCHE: Sie sind Philosoph und Soldat. Wofür kämpfen sie persönlich in diesem Krieg?
Drobovych: Für mein Land und für meine Familie in erster Linie. Ich bin der Armee beigetreten, als die russischen Panzer rund um Kiew standen und Raketen Wohngebäude in der Stadt getroffen haben. Es ist meine Pflicht, die Freiheit dieses Landes und die Leben meiner Familie zu verteidigen.

DIE FURCHE: Ihr Institut war von russischer Seite vielfach kritisiert worden als Institution, die Geschichte umschreibe. Sie haben ihr Amt mit dem Plan angetreten, die Arbeit des Instituts zu liberalisieren. Was hat Sie an der vorherigen Arbeit gestört?
Drobovych: Ich glaube, wir brauchen mehr Dialog und weniger Ideologie. Weil Ideologie nicht ohne gesunden Dialog existieren kann. Ideologie ohne gesunden Dialog ist als Regelwerk nicht gut für eine Gesellschaft. Ich denke, dass die Zahl öffentlicher Anhörungen und Debatten sowie digitaler Auseinandersetzungen zeigt, dass wir Erfolg haben. Ich würde aber nicht sagen, dass das alles ruhig verläuft. Und es liegt noch viel Arbeit vor uns.

DIE FURCHE: Wieso wurde eine Institution wie diese denn überhaupt nötig? Hat das mit einem Mangel an historischem Bewusstsein in der Öffentlichkeit zu tun oder liegt das vielmehr daran, dass die ukrainische Geschichtsschreibung durch russische Sichtweisen dominiert war?
Drobovych: Einige hundert Jahre russisches Imperium und mehr als 70 Jahre Sowjetunion haben unsere sozialen Strukturen zerstört. Das betrifft die Art, wie wir politische oder kulturelle Fragen behandeln. Und das betrifft die Institutionen, denen die Führung dieses Dialogs zufällt: Akademien, Universitäten. Aber Ukrainer streben nach Demokratie – das zieht sich quer durch die Geschichte. Angefangen von den Kosaken-Staaten. Es gibt diese tief sitzende Erfahrung einer Gemeinschaft, die sich Institutionen zur gemeinsamen Entscheidungsfindung schafft – aber diese Institutionen wurden zerstört und korrumpiert durch die Sowjetunion. An diesem Punkt haben wir beginnen müssen.

DIE FURCHE: Einige Veränderungen sind ja sehr sichtbar. Etwa, dass Hammer und Sichel an der Mutter-Heimat-Statue in Kiew durch den ukrainischen Dreizack ersetzt wurden. Aber in welchem Ausmaß ist sowjetische Geschichte denn auch ukrainische Geschichte?
Drobovych: Die Mutter-Heimat-Statue ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie wir seit 30 Jahren in der Öffentlichkeit und unter Experten debattiert haben. Diese Debatte ist vor allem ein Beispiel dafür, wie sich die ukrainische Gesellschaft zu einem Andenken an den Zweiten Weltkrieg durchgerungen hat. Das ist kein abgeschlossener Prozess. Ein großer Teil der ukrainischen und der russischen Geschichte sind miteinander verwoben. Das ist großteils ein Fluch. Weil jedes Mal, wenn Russland in Richtung Imperialismus geht, verwendet es genau diese Nähe. Es ist wie in einer Familie, in der es Geschichten gibt, die für Einzelne sehr schmerzhaft sind.

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