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Sozialismus und Mehrheitswahl

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Österreichs Sozialisten leiden an einem Trauma, das immer wieder in den Diskussionen über das Wahlrecht aüfbricht:' ihrer heftigen Abneigung gegen die Mehrheitswahl- ordnüng. Ein Blick' in die Vergangenheit scheint ihnen fürs erste recht zu geben. Tatsächlich herrschte in den Wahlordnungen der meisten europäischen Staaten vor 1918 ein Mehrheitswahlsystem, das mit einer willkürlichen, manipulierbaren Wahlkreiseinteilung gerade die junge, dynamische sozialistische Bewegung kraß benachteiligte. So wählten im wilhelminischen Deutschland 1912 in Schaumburg- Lippe rund 11.000 Wahlberechtigte einen Abgeordneten, in Berlin N- NW hingegen 219.782.

Das' britische "Beispiel

Es spllte .aber sofort nachdenklich stimmen, "daß in Großbritannien? wo bereits die liberale Regierung Gladstone 1885 die prinzipielle numerische Gleichheit der Wahlkreise durchgesetzt hatte, also eine Benachteiligung irgendeiner Partei durch eine willkürliche Wahlkreiseinteilung weitgehend unmöglich geworden war, die Sozialisten die Einführung der Verhältniswahl keineswegs zu einer ihrer Forderungen machten. Ramsey MacDonald bezeichnete 1909, als die Labour Party noch keineswegs vom Pendelspiel des Zweiparteiensystems profitierte, in seinem Buch „Socialism and Government“ die Verhältniswahl als ein Resultat von „oberflächlichem Denken“. Wahlen müßten auf mehr abzielen als auf die Wahl von Repräsentanten, sie müßten dem Völk die Alternative zwischen zwei Regierungen bieten; und nach 1923, als die Sozialisten unter MacDonald cum erstenmal die Regierung stellten, lehnte dieser die plötzliche Forderung der Liberalen nach der Verhältniswahl entschieden ab: „Democracy does not consist of counting noses."Tatsächlich führten die britischen Sozialisten nach 1923 und nach 1945 einen größeren Teil des eigenen Programms durch, als es die meisten sozialistischen Parteien des Kontinents in den auf Grund der Verhältniswahl notwendigen Koalitionen vermochten.

Frankreich

Aber auch in der zweiten großen Demokratie Europas, die auf eine längere Geschichte einer unverzerrten Mehrheitswahl zurückblicken kann, in Frankreich, war die Haltung der Sozialisten zur Mehrheitswahl keineswegs grundsätzlich ablehnend. Die Wiedereinführung der Mehrheitswahl 1927, nach einer Periode der Verhältniswahl, wurde von den Sozialisten, gemeinsam mit den Radikalen, gegen die Rechtsparteien durchgesetzt, und die Regierung der Linken unter Leon Blum, 1936, wurde nur dadurch ermöglicht, daß gerade die demokratische Linke aus der Mehrheitswahl die größten Vorteile zog; die Sozialisten erzielten mit 19,9 Prozent der Stimmen 24,5 Prozent der Mandate.

Als jedoch 1945 Frankreich wieder zur Verhältniswahl überging, wurden gerade die Sozialisten geschädigt; obwohl nach den sozialistischen Erfolgen bei den vorangegangenen Gemeinderats- und Provinzialwahlen, die noch nach Mehrheitswahlsystem abgehalten wurden, alles einen sozialistischen Erfolg erwartete, sank der sozialistische Stimmenanteil bei den drei Wahlen 1945 und 1946 (erste und zweite konstituierende Versammlung, erste Nationalversammlung) von 24 auf 21,1 und 17,9 Prozent; der Anteil der KP stieg: 26 — 26,2 — 28,6 Prozent. Das war eine Folge der Erscheinung, daß bei Verhältniswahl die extremistischen, antidemokratischen Kräfte gegenüber den demokratischen einen gewissen Vorteil genießen; während bei Mehrheitswahl die demokratischen Parteien (also demokratische Rechte und demokratische Linke) auf Grund der geringeren Entfernung von der Mitte, vom „Grenzwähler“, und auf Grund der größeren Bündnisfähigkeit gegenüber den Extremisten eine bessere Ausgangsposition besitzen, fällt dieses Plus bei der Verhältniswahl weg, ja viele Wähler, die bei Mehrheitswahl demokratisch (z. B. sozialistisch) wählen, weil sie sonst ihre Stimme weg- zuwerfen fürchten, wählen bei der Verhältniswahl extremistisch (z. B. kommunistisch). Diese Einsicht führte dazu, daß 1955 sowohl SFIO als auch Mendės-France und Faure die Mehrheitswahl wieder einführen wollten; sie scheiterten jedoch in der Nationalversammlung. Schon 1949 hatte Leon Blum in „Le Populaire“ eine kritische Artikelserie zur Verhältniswahl veröffentlicht. Als de Gaulle aber der Schritt zur Mehrheitswahl gelang, waren die Sozialisten sofort wieder im Vorteil gegenüber der KP: 1962 erreichten sie mit 13 Prozent der Stimmen (15 Prozent im 2. Wahlgang) 68 Sitze in der Nationalversammlung, während die KP mit 22 Prozent (21 Prozent) 41 Mandate erhielt.

Italien

Am deutlichsten kam die Schädigung der sozialistischen Parteien durch die Verhältniswahl in Italien zum Vorschein. 1919 setzte die Rechtsregierung Nitti die Verhältniswahl durch, vor allem, um das Aufkommen der Sozialisten und der „Populari“ Don Sturzos zu bremsen. Nitti hatte sich nicht verrechnet: Bei den ersten Wahlen, die nach dem Proporzsystem abgehalten wurden, erhielten die Sozialisten um 70 Sitze weniger, als sie mit gleicher Stimmenanzahl bei Majorzsystem erhalten hätten — bei Mehrheitswahlsystem hätte es eine sozialistische Kammermehrheit gegeben! Mit einer solchen Parlamentsmehrheit wäre der unglückliche Lauf der Dinge natürlich wesentlich zuungunsten des Faschismus beeinflußt worden.

1946, nach dem Ende der faschistischen Herrschaft, erhielten bei den ersten Kammerwahlen die DC 207, die Sozialisten 115 und die Kommunisten 104 Mandate. Das PSI war also am Neubeginn der italienischen Demokratie stärker als die Kommunisten (Sitzverteilung 1962: DC 260, KPI 166, PSI 87, Sozialdemokraten 33). Die darauf einsetzende Desintegration des italienischen Sozialismus, die Spaltung in zwei und schließlich drei Parteien, wäre bei einem relativen Mehrheitswahlsystem nach britischem Vorbild, mit seinem Zug zum Zweiparteiensystem und seinem Zwang zum Zusammengehen der einzelnen Flügel in den beiden Großparteien, fast undenkbar. Außerdem hätte bei Majorzsystem der demokratische Sozialismus gegenüber dem Kommunismus, wie das französische Beispiel zeigt, die bessere Ausgangsposition. Pietro Nenni hatte 1945, also noch vor seinem Bündnis mit den Kommunisten, eine der Schwächen der Verhältniswahl erkannt: „Jenes Wahlrecht ist das demokratischste, welches der Mehrheit das Recht gibt, zu regieren. Die reine Verhältniswahl ohne Mehrheitsprämie hat den Nachteil, niemandem das Regieren zu erlauben, weder der Linken noch der Rechten.“

Deutschland

In Deutschland ..war, dje SED .schon im ,.Erfurter Programm“, 1891, für die Verhältniswahr..eingetreten, und 1918 konnte sie diese Forderung auch erfüllen. Aber bald meldeten sich innerhalb der Partei Stimmen, die im Mehrheitswahlsystem, das ein Zweiparteiensystem mit einer demokratischen Linkspartei (SPD) und einer demokratischen Rechtspartei (Zentrum und verschiedene liberale Gruppen) herausbilden sollte, einen wirksameren Schutz als die Verhältniswahl gegen den drohenden braunen Terror sahen. Dazu gehörten Julius Leber und Carlo Mierendorff, beide später Opfer Hitlers. 1934 verlangte der Exekutivausschuß der SPD im Exil für die Zeit nach Hitler eine „Volksvertretung, gewählt nach allgemeinem, gleichem, direktem und geheimem Wahlrecht in Einmannwahlkreisen“.

Heute steht die SPD auf dem Boden des gegenwärtigen Wahlrechtes, das — trotz Proporzgrundsatz — wertvolle Elemente der Mehrheitswahl besitzt (gewisse Integrationstendenzen auf Grund des Zwanges, im kleinen Einmannwahlkreis den Grenzwähler anzusprechen, damit verbunden eine Bevorzugung der demokratischen Großparteien), und es ist durchaus möglich, daß die SPD gemeinsam mit der CDU/CSU weitere Schritte in Richtung Mehrheitswahl unternimmt.

Österreich

Auch in Österreich waren schon,

wenn auch nur vereinzelt, Stimmen zu hören, die ähnliche Gedanken vortrugen. So schrieb Günther Nenning, „um das zweifellos sehr bedeutsame Ziel einer soliden Regierungsmehrheit zu fördern“, dürfe man „vom Prinzip der Gleichheit aller Stimmen vernünftige Abstriche machen“, und Heinz Fischer bezeichnete das derzeitige westdeutsche System als für die SPÖ akzeptabel.

Gerade ein etwas variiertes Mehrheitswahlrecht könnte doch die von der SPÖ angestrebte Garantie geben, daß die Partei mit der Stimmenmehrheit auch die Mandatsmehrheit besitzt: dann, wenn eine zusätzliche Liste, die aber die Mehrheitswahl nicht prinzipiell abschwächt, einer Partei mit einem Mehr an Stimmen, aber weniger Direktmandaten durch Zusatzmandate die Mehrheit sichert (also eine Art von Prämiensystem); diese Ergänzungsliste könnte auch garantieren, daß eine Partei mit mehr als einem Drittel der Stimmen auch die Sperrminorität von einem Drittel der Mandate erhält.

Dadurch würde verhindert (oder zumindest ist der Mechanismus der Mehrheitswahl ein größeres Hindernis), daß irgendeine Außenseitergruppe mangels einer klaren Mehrheit im Parlament übermäßigen Einfluß gewinnt und sich in eine Schiedsrichterrolle manövrieren kann; dadurch würde auch verhindert, daß eine Großpartei durch eine innerparteiliche Extremistengruppe auf einen Weg gedrängt wird, den sie ursprünglich gar nicht gehen wollte, da nur bei Verhältniswahl ein solcher Extremistenflügel (so der Heimwehrflügel innerhalb der Christlichsozialen Partei vor 1934!) durch die Drohung mit dem Austritt (bei Mehrheitswahl wäre ein solcher Austritt ohne reelle Aussicht auf Erfolg) ein Übermaß an Einfluß gewinnen kann.

Schutz für die Demokratie

Es müßte doch gerade den Sozialisten zu denken geben, daß nach 1918 in den Ländern, die kurze Zeit vorher zur Verhältniswahl übergegangen waren, ein demokratisches System die Machtübernahme autoritärer Bewegungen nicht verhindern konnte — so in Italien, Deutschland, Österreich, Polen, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, während in den Ländern mit Mehrheitswahl, also in Großbritannien, USA, Frankreich, die Demokratie siegreich blieb. Damit soll nicht behauptet werden, daß die Verhältniswahl solche Erfolge antidemokratischer Kräfte verursachte — aber die Mehrheitswahl (vor allem die relative Mehrheitswahl) bietet einen wirksameren Schutz für die demokratischen Institutionen, da der ihr eigene Automatismus von vorneherein zwischen demokratischen und antidemokratischen Parteien differenziert, wie es die Geschichte der Demokratie im 20. Jahrhundert beweist. Aber auch wenn die Demokratie keiner unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt ist, bietet die Mehrheitswahl den gewaltigen Vorteil klarer Regierungsmehrheiten: so konnten im Spätsommer 1963 in Norwegen die zwei Abgeordneten der Linkssozialisten allein über das Schicksal zweier Regierungen entscheiden, trotz der traditionellen Stärke der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, während in der Indischen Union mit ihrer Armut, ihrem Analphabetismus, ihrem Kastenwesen seit 1947 gerade durch die stabile Mehrheit der Kongreßpartei (die man dem Lager des demokratischen Sozialismus zurechnen muß), ermöglicht durch das Majorzsystem, eine kontinuierliche demokratische Entwicklung vorhanden ist.

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