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Was geschieht, wenn — ?

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Nach den Präsidentenwahlen im Dezember 1965 bestimmt Frankreich im März 1967 die Zusammensetzung des Parlamentes. Die Regierungsmehrheit wie die Opposition wissen allerdings, daß es sich in erster Linie um eine neuerliche Bestätigung für das höchste Staatsamt handelt. General de Gaulle schenkte durch seinen persönlichen Stil den Einrichtungen der 5. Republik ein besonderes Relief. Er erfüllte sie mit seinem Geist und würde es wohl nie gestatten, daß eine aus heterogenen Elementen zusammengesetzte Kammer seine Politik desavouiert. Alle Diskussionen gehen von der gleichen Überlegung aus: Was geschieht,

wenn der Staatschef eine parlamentarische Mehrheit vorfindet, die seinen Intentionen mit Reserven begegnet oder etwa gar ablehnt? Löst der Präsident dann die Kammer sofort auf, um Neuwahlen auszuschreiben? Dieses Recht steht ihm nach der Verfassung zu. Wird eine Minderheitsregierung, nur durch sein Vertrauen gestützt, die gaullistische Politik gegen den Willen des Parlamentes weiterführen?

Kommt es zu einem Staatsstreich und wird damit die persönliche Gewalt endgültig installiert? Schließlich könnte sich de Gaulle in das Kyffhäusergebirge zurückziehen, diesmal Colombey-les-deux-Eglises genannt.

Politische Auguren deuten je nach Geschmack und dem eigenen politischen Standpunkt die Entscheidungen eines Mannes, der in starkem Maße die Phantasie der Nation wie der übrigen Welt beschäftigt. Selbst fachkundige Beobachter wagen in keiner Weise derzeit den Ausgang dieses Wahlkampfes in Umrissen oder Zahlen zu prophezeien. Allerdings dürfte die künftige Kammer kaum so willfährig sein wie jene der abgelaufenen Legislaturperiode. Die 4. Republik hatte alle staatliche Macht der Legislative verliehen und die Exekutive stand im Hintergrund.

Das Pendel schlug in der 5. Republik entschieden zu weit nach der anderen Richtung aus. Niemals in der Geschichte der drei Republiken zeigte sich ein Parlament so lammfromm und für die Staatsführung ungefährlicher, als die in Kürze aufgelöste 1. Kammer der 2. Regierungsperiode de Gaulles.

Dialog — Monolog?

Die Staatspartei suchte in den vergangenen Jahren die eigenen Strukturen und entwickelte ihre bescheidene Organisation. Sie anerkannte jeden beliebigen Kandidaten, der im lokalen Bereich Erfolg versprach und die Unterstützung eines gaullistischen Notabels gewonnen hatte. Es waren daher selten scharf profilierte Persönlichkeiten oder kämpferische Naturen, die den Halbkreis des Palais Bourbon zierten. Das Parlament sank zu einer Abstimmungsmaschine herab, und fast alle Initiativen gin gen vom Staatschef und der Regierung aus.

Die politische Tätigkeit Frankreichs findet in erster Linie in einem Dialog zwischen de Gaulle und der Öffentlichkeit statt. Der Staatschef liebt es, in Reden und seinen berühmten Pressekonferenzen die Entschlüsse bekanntzugeben, die im besonderen Fall durch ein Referendum sanktioniert wurden.

Der General pflegte durch seine „Bäder in der Menge“, wie es so schön heißt, einen Kontakt des Augenblickes mit den Massen zu pflegen. Die politischen Parteien zogen sich in einen gewissen Winterschlaf zurück. Die Herrschaft der Technokraten, der vorzüglich ausgbildeten Verwaltungsbeamten setzte ein. Wo ist die Zeit, da in nächtlichen, fiebrigen Sitzungen die Intrigen in den Wandelgängen des Parlamentes gesponnen wurden und in sorgfältig politischen Dosierungen die Kabinette gebildet und gestürzt wurden? Selbst die nach dem zweiten Weltkrieg so mächtige kommunistische Partei, zeitweise gelähmt durch den Verlust ihres Hauptstreiters Maurice Thorez, schwenkte in eine mildere Opposition ein, die in Volksfesten und Feuerwerken ihren Höhepunkt fand. Der soziale Kampf wird gegenwärtig in erster Linie von den Gewerkschaften geführt, die in oft machtvollen Streikwellen ihre Unlust gegenüber der zu stark betonten kapitalistischen Form des Regimes zum Ausdruck bringen.

Primat der Persönlichkeit

Die Perspektiven der Wahl rütteln nun doch die Parteien auf, wobei in diesem Stadium der Primat der Persönlichkeit über die Routine des Apparates steht. Pompidou, Lecanuet, Mitterand prägen durch die Art, in der sie politische und wirtschaftliche Probleme vorstellen, diese Ouvertüre des Wahlkampfes. Wir halten jedenfalls fest, daß die Epoche der erregenden ideologischen Auseinandersetzungen in Frankreich vorläufig vorüber ist. Die christlichen Demokraten, einst zukunftsträchtige Form des erneuerten Frankreichs, fristen mit sehr geringer Überzeugung ein bescheidenes Dasein in den streng katholischen Regionen des Landes. Die Sozialisten (SFIO) amtieren unter der Etikette der linken Föderation, und ihr Generalsekretär Mollet wußte zum geistigen Standpunkt seiner Partei kürzlich sehr wenig zu sagen.

Die Regierungspartei UNR versucht, weiterhin in großer Geschlossenheit ihr Image dem Wählervolk darzustellen. Allerdings tritt sie keineswegs als ein monolithischer Block auf, sondern zahlreiche Tendenzen, verschiedene soziologische Schichten werden durch das Prestige des Generals angezogen. Einer der wenigen Theoretiker des Gaullismus, Dauer, sucht im Gaullismus eine Bewegung zu definieren, die ständig gegen die Fatalitäten des Schicksals und der menschlichen Schwäche überhaupt ankämpft, eine Bewegung also, die auch in der vorübergehenden Niederlage den künftigen Sieg anstrebt. Die Masse des französischen Bürgertums hat vorläufig in der UNR eine politische Heimstätte gefunden.

Zur Familie

Zur gaullistischen Familie zählt noch die Gruppe der unabhängigen Republikaner des früheren Finanzministers Giscard d’Estaing. Wie Präsident Kennedy wurde Giscard von seiner Familie von frühester Kindheit an dazu erzogen, höchste Stellen im Staate, ja das Amt des Präsidenten der Republik einzunehmen. Ohne Zweifel ist der frühere Finanzminister eine der brillantesten Persönlichkeiten des modernen Frankreichs. In jungen Jahren, wo andere noch die Bänke der Universitäten drücken, wurde ihm bereits größte Ministerverantwortung anvertraut. Giscard d’Estaing gelang es, die Technokraten, den gehobenen Mittelstand, die Unternehmer, zu sammeln, und kurzfristig eine beachtliche Organisation aulzubauen. Mit diesem Apparat hofft er, die künftige Mehrheit zu beeinflussen und sie zu europäischeren Optionen zu zwingen. An Stelle des „nationalen Neutralismus“, um einen Begriff des früheren britischen Botschafters in Paris zu verwenden, der die gaullistische Außenpolitik derzeit inspiriert, tritt durch die unabhängigen Republikaner eine deutliche Hinwendung zu Europa, auch in seinen politischen Strukturen.

Vorläufig fechten Pompidou und Giscard d’Estaing einen ebenso höflichen wie nachdrücklichen Kampf aus, um ihre differierenden Vorstellungen bezüglich der Kandidatenaufstellungen durchzusetzen.

„Nur ein Kandidat der Gaullisten im ersten Wahlkampf“, dekretiert .Ministerpräsident Pompidou. „Getrennt marschieren, vereint im zweiten Wahlgamg“, schlägt Giscard d’Estaing vor. Das Aktionskomitee der 5. Republik, ein Organ der Mehrheitspartei, um das Manna der Parlamentssitze zu verteilen, hat den Wunsch Giscards zur Kenntnis genommen, aber keine Entscheidung getroffen. Auch die Forderungen der Linksgaullisten, die sich in der „Front des Fortschritts“, in der „Vereinigung für das neue Regime“, im „Zentrum für republikanische Reformen“ treffen, wurden noch nicht endgültig abgeklärt. Auf alle Fälle werden die Gaullisten durch den relativen Mißerfolg im ersten Wahlkampf der Präsidentenwahl gewarnt, einen Wahlfeldzug großen Stiles aufzubauen.

Der Gegner

Auf dem Weg zum Siege finden sie jedoch einen Gegner, der ihnen höchst unangenehm erscheint. Der neue Stern der französischen Innenpolitik, Jean Lecanuet, genießt unter den Gladiatoren den Vorzug, der Telegenste zu sein. „Ich gehe als Sieger aus diesem Wahlkampf hervor. Selbst wenn ich nicht die Mehrheit erreiche, stehe ich an der Nahtstelle zwischen Mehrheit und der echten Opposition. Eine Regierungsbildung ohne mich ist daher unmöglich. Schließlich verhandelte de Gaulle auch mit Ben Bella.“ Lecanuet vergaß nicht, sofort seinen Preis zu nennen: Frankreich verbleibt weiterhin in der nordatlantischen Allianz, die Europäische Einheit wird gefördert und er wünscht ein Abkommen bezüglich des sozialen Fortschritts, als letzte Verpflichtungen an die christliche Demokratie. Nach einigen Monaten des Zögerns sind Lecanuet und sein Demokratisches Zentrum sehr aktiv geworden. Pompidou ist sich der Schlüsselposition Lecanuets bewußt und lockt bereits mit Ministerstühlen, wobei er jedoch zu erkennen gibt, daß die Union nur unter der Bedingung zustande kommt, daß Lecanuet die bisherige Politik akzeptiert. Freilich, „ein klein wenig“ würde dem neuen Element Rechnung getragen. Denn das System der 5. Republik, umreißt Pompidou die Regierungsform, ist halb ein parlamentarisches, halb ein Präsidialregime. Pompidou sucht also die künftige Mehrheit zu definieren, die zweifelsohne das demokratische Zentrum umschließen muß, natürlich unter der Voraussetzung des Verlustes der absoluten Mehrheit. Links wenig Neues, möchte man sagen, sobald sich die Betrachtung mit der Linksopposition beschäftigt, die den Kampf gegen die „persönliche Gewalt“ proklamiert.

Die Linksföderation Mitterands sammelte bei den Präsidentenwahlen mit Hilfe der Kommunisten 10,600.000 Stimmen. Sie ist sich bewußt, daß sie, zusammengesetzt aus Teilen der Radikalen und der SFIO, ohne die Unterstützung der Kommunisten in keiner Weise die Vorherrschaft der Regierungspartei brechen kann.

Allerdings zeichnet sich inzwischen ein verstärkter Flirt zwischen den Sozialisten und den Kommunisten ab. In verschiedenen Begegnungen im Frühsommer wurde ein Dialog zwischen den beiden Linksparteien eingeleitet, um das Wesen der modernen Demokratie sowie die Rolle der Arbeiterklasse in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu studieren. Man möge hier erste tastende

Versuche erkennen, das große Schisma des Stalinismus zu überwinden. Die politische Einheit der französischen Arbeiterklasse wird inzwischen durch die einzelenen Gewerkschaftszentralen vorbereitet. Die Kommunisten behaupten zwar, das gaullistische Regime zu bekämpfen, aber in allen wichtigen Debatten im Parlament stimmten sie mit den Regierungsparteien, besonders in Fragen der Außenpolitik — wie die Annäherung an die Sozialistenstaaten Osteuropas oder den Austritt Frankreichs aus der NATO. Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, daß die Kommunisten als die klugen Taktiker der Macht zu genau wissen, daß auch eine Sammlung aller Linkskräfte niemals eine Mehrheit erzie len wird. Sie sind daher bereit, den bisherigen Machtverhfiltnissen eher zuzustimmen als einen erfolgreichen Lecanuet zu bekämpfen, der mit einem atlantischen und europäischen Programm aufwartet. So wird der Chef des Demokratischen Zentrums als finsterer Reaktionär bezeichnet, der auf alle Fälle zu schlagen ist. Was wäre schon ein Wahlkampf ohne den riesigen Teufel, der die Anhänger zu erhöhter Wachsamkeit zwingt? Man darf aber annehmen, daß äus dem Umengang des Märzes 1967 ein Parlament entsteht, das den Aspirationen der modernen französischen Industriegesellschaft entspricht und in erster Linie die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Nation zu lösen versucht.

dieser Wahl auf eine Parlamentswahl, dann müßte das den Verlust von zehn sozialdemokratischen Mandaten bedeuten, womit auch mit den Mandaten der Kommunisten die Linksmehrhedt in der Zweiten Kammer verloren gehen müßte. Der Anstieg der Kommunisten von 5,3 auf

6,6 Prozent der Stimmen würde — bei der jetzigen Wahlkreiseinteilung

— wahrscheinlich nur den Gewinn eines Mandates bringen, möglicherweise nicht einmal einen solchen.

Die Ursachen der Niederlage kann man natürlich nicht in einem ungeschickten Verhalten einzelner führender Sozialdemokraten oder in einem Versagen der Parteipropaganda allein suchen, die fortgehende Geldwertverschlechterung und die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt dürften die Hauptrollen gespielt haben. Daß die Kommunisten die Preisentwicklung als erste Partei in den Mittelpunkt ihrer Propaganda gestellt haben, hat sich für die KP ganz offenbar gelohnt, daß der Finanzminister Sträng diese Preisentwicklung mit einem Achselzucken und einer Handbewegung abtun wollte — und das ebenfalls vor allen Fernsehern! —, mußte unausweichlich zu einem Rückschlag führen.

Was nun?

Doch was geschieht nun? Zur Stunde neigt eine Mehrheit in der Arbeiterpartei mit Herrn Erlander an der Spitze dazu, das Regierungsruder feistzuhalten, solange es nur geht, das heißt bis zum Herbst 1968. Eine andere, ziemlich starke Gruppe, spricht für die sofortige Auflösung der Zweiten Kammer und Neuwahlen noch in diesem Herbst. Das würde wahrscheinlich zu einer Niederlage der Arbeiterpartei und zur Bildung einer bürgerlichen Koalitionsregierung nach norwegischem Muster führen. Doch die dazu erforderliche bürgerliche Einigung besteht noch nicht, sie könnte erst nach schwierigen Verhandlungen zustande kommen, und bis zu,m Herbst 1968 — dem Zeitpunkt der nächsten ordentlichen Wahlen! — könnte diese bürgerliche Regierung nicht viel ausrichten.

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