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Damals in Wien ...

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Gestern hab ich mulat-tiert! Habts das Bild vom Schönpflug gsehn, Klas-sikaner! Sie könnten an derSirk-Eckestehen,die beiden österreichischen Offiziere rechts oben auf dieser Seite, sie könnten, betrachtet man ihre Haltung, gehau jene Sätze sprechen, mit denen Karl Kraus jeden Akt der „Letzten Tage der Menschheit” eben dort beginnen ließ. Aber sie stehen nicht an der Sirk-Kcke, sondern vor dem alten Haas-Haus auf dem Stephansplatz, und was sie gesprochen haben, wissen wir nicht, denn der Wiener Hof- und Gerichtsadvokat Dr. Emil Mayer hat sie nicht belauscht, sondern unbemerkt fotografiert.

Nicht mit versteckter Kamera, doch-so, daß er diese - wahrscheinlich einen Rollfilmapparat der Marke Voigtländer, Format 6x9- um 90 Prozent geschwenkt in der I Iand hielt, als er von oben in den Sucher sah, eine sogenannte Libelle, so daß die Offiziere den Eindruck gewinnen mußten, er fotografiere an ihnen vorbei ein ganz anderes Motiv. Dies war seine Technik des unauffälligen, unbemerkten Fotografierens.

Emil Mayer war, daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen, einer der Großen der Fotografie. Sowohl als Künstler, als Gestalter hervorragend komponierter Aufnahmen, als auch als Dokumentarist, der von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg das Wiener Straßenleben und die „Wiener Typen” festhielt. Ein neues Buch aus dem Verlag Christian Brandstätter, „Damals in Wien: Menschen um die Jahrhundertwende, photora-phiert von Dr. Emil Mayer”, liefert dafür endgültig den Beweis. Er steht absolut gleichwertig neben Meistern der Kamera wie Emile Zola, Heinrich

Zille, Andre Kertesz, Roman Vishniak und Henri Cartier-Bresson.

Aber er ist wahrscheinlich der einzige Große, von dem kein Negativ erhalten blieb. Nur drei Porträtfotos übermitteln, wie er selbst aussah.

Sie wurden wohl von seiner Frau gemacht, die ebenfalls eine begabte Fotografin war. Sie starben in ihrer Wohnung, Böcklinstraße 12, am 8. Juni 1938, zwei Tage nach ihrem 35. Hochzeitstag. Die Wohnung wurde geplündert, Verwandte rette ten wenige Abzüge in die Emigration.

Von den Mitgliedern und Honoratioren des Wiener Amateur-Photographen-Klubs, dessen Präsident Mayer 20 Jahre lang und dessen Eh renpräsident er bis 1938 gewesen war und der 1919 eine Medaille zu seinen Ehren hatte prägen lassen, fand zwar keiner den Mut oder die Möglichkeit, dieses unersetzliche Archiv zu retten. Immerhin retteten Mitglieder 234 Glasdiapositive aus den später bombenbeschädigten Klubräumen.

Die Wiederentdeckung Mayers ist Verdienst eines großen österreichischen Fotografen der Nachkriegszeit, Franz Hubmann. Ihm fiel 1960 in einem Antiquariat Felix Saltens Büchlein „Wurstelprater” mit 75 Originalaufnahmen Mayers in die Hände, ihm fiel die außerordentliche Qualität der Aufnahmen auf, und ihm wurde „der Gedanke an die Originalplatten ... zur fixen Idee”. Jahre später fand er zwar nicht die Originalnegative, doch Glasdiapositive, die Emil Mayer zwischen 1900 und 1910 für seine Lichtbild vortrage hatte anfertigen lassen.

Hubmann trug auch an Informationen über Mayer zusammen, was möglich war. Darunter das Erlebnis, das Emil Mayer den Anwaltsberuf verleidete: Er hatte, im Glauben an seine Unschuld, den Freispruch eines des Mordes Angeklagten erreicht -nach dem Prozeß ~estand ihm dieser, daß er die Tat begangen hatte. In seinen späteren Jahren wandte er sich vom Dokumentieren des Alltagslebens ab und der künstlerischen Landschaftsfotografie zu. Er perfektionierte mit einer Reihe von Erfindungen den Bromölum-druck, ein anspruchsvolles künstlerisches Kopierverfahren. Seine große Lebensleistung aber ist das Bild Wiens, gesehen mit feinem psychologischem Empfinden, scharfer Beobachtungsgabe und fulminantem Können. Das neue Buch ist in der Flut der Fotobände und Wienbücher eine Besonderheit. Es zeigt Wien um 1900 aus einer Nähe und mit einer Schärfe wie kaum je zuvor.

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