Freie Liebe in Büchern

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Patrik Ouredník erzählt von der Eroberung des Paradieses, das deswegen zu Hölle wird.

Im Jahr 1855 brechen gleichgesinnte Idealisten gen Brasilien auf: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit … doch sehr rasch holt sie die Realität ein, und zwar auch und vor allem jene der eigenen Menschlichkeit, der das hehr Angedachte zu abstrakt ist. Der Erzähler protokolliert diesen Verfall, wobei das Motto von E. M. Cioran stammen könnte: "Im Leben eines Dichters kann es keinerlei Erfüllung geben. Denn Leben ist nur bei Nichtbeachtung des Lebens möglich."

Mit Die Gunst der Stunde legt Patrik Ouredník ein doppeltes Journal des Aufbegehrens vor - gegen die Konventionen im Rahmen des Aufbruchs, aber auch im Sinne einer nicht verklärenden Berichterstattung: "Ich entziehe mich dem Schreiben nicht, lediglich der Literatur. Im Schreiben liegt die Wahrheit, in der Literatur die Lüge." Beides ist von einem Impuls getragen, der seit Heine bekannt ist - es sei "wahrscheinlicher […], dass Ihnen meine Liebe größer erschienen wäre, hätte ich sie in Verse gekleidet", so klagt jener, dem indes ob seiner Liebe die Worte fehlen.

Utopia: Das soll eben keine Lüge sein, so die naive Berichterstattung, die sich ad absurdum geführt haben wird - "Brot für alle, doch Ballroben für Sie allein", vor allem aber: "freie Liebe in Büchern und im Leben einen Gemahl". Das wird auch den Aufbruch prägen, tagebuchähnlich im zweiten Teil des Buches protokolliert. Nicht die Armut - der Umstand, dass einige der Mitreisenden "begonnen haben, die Kartoffelschalen aufzusammeln, die wir ins Meer zu werfen pflegen" - und auch nicht die Repression von oben, vielmehr die Korrosion von innen beginnt unheilvoll zu wirken. "Mit Elisabeth unterhalte ich mich nach wie vor über unser neues Leben, […] aber wenn ich ihr an den Busen fassen will oder zwischen die Beine, sagt sie:, Nein, Bruno, noch nicht.' […] Ich glaube, dass die freie Liebe rein gar nichts bringt, wenn man sie nicht praktiziert." Später erfährt man: "Elisabeth erwartet ein Kind, aber wir wissen nicht, von wem es ist."

Kommunisten und Christen streiten, wer naiver, wer "ein echter Holzkopf" sei; die Ideale werden wechselseitig zu Chimäre und Betrug erklärt, das Hoffnung getaufte Kind an Bord stirbt nicht zuletzt, "Hoffnung hat nichts zu trinken". Da es an Bord kein Wasser, sondern nur noch Wein gibt, sinkt die Moral immer weiter … und ist doch noch immer jene der Idealisten: das Paradox des Romans.

Das Paradies wird erobert und darum zur Hölle - eine touristische Erfahrung sozusagen. Die feine Beobachtung und die exakte Sprache, die Michael Stavaric als Übersetzer wahrt, geben der Schilderung etwas angenehm Unpädagogisches. Zuletzt denkt man an die Aufklärung Voltaires, die auch ihren Träumen nicht mehr über den Weg traute, denkt an Candide. Hoch gegriffen? In vielen Passagen: nicht zu hoch.

Die Gunst der Stunde, 1855

Von Patrik Ouredník

Übers. v. Michael Stavaric St. Pölten: Residenz Verlag 2007 169 Seiten, geb., € 17,90

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