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Ursprünge der Gewalt

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Aggressivität ist heutzutage zu einer weltweiten Bedrohung der privaten, gesellschaftlichen und politischen Existenz eines jeden einzelnen und großer Gemeinschaften, ja ganzer Völker geworden; und es fehlt nicht an Stimmen, die in der immer weiter um sich greifenden Feindseligkeit innerhalb der Menschheit eine Gefahr für ihren Fortschritt sehen. Kein Wunder, daß diese Aussicht viele Forscher alarmierte, die Ursprünge und Wurzeln der Aggression aufzudecken und Vor- und Ratschläge zu ihrer Überwindung vorzulegen. — Zwei polare Standpunkte stehen sich im Verständnis und in der Lösung des Gewaltproblems schroff gegenüber: Nach K. Lorenz, und vor ihm S. Freud, ist die Aggressivität ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Natur; sie Ist eine fundamentale, angeborene Eigenschaft, die sich durch Umwelteinflüsse kaum unterdrücken läßt: „Die Vorstellung, daß wir den Aggressionsdrang loswerden könnten, muß als Unsinn erscheinen!“ Aggressivität ist ein Teil des Selbsterhaltungstriebes, weshalb letztlich alle Menschen aggressiv sind, wenngleich auch nur graduell verschieden. Daher könne auch die Beseitigung von Frustrationen und Streß- Situationen das Los der Menschheit keineswegs erleichtern. — Dieser Theorie von der „bedingungslosen", will sagen: von Umweltbedingungen unabhängigen Aggressivität steht die Milieutheorie gegenüber, die in der Gewalttätigkeit eine Reaktion auf unerträglich gewordene Frustrationen sieht. Feindseligkeit ist hier ein Symptom für innerhalb der menschlichen Gesellschaft bestehende Streß-Situationen in der Beziehung der Menschen zueinander oder zu ihrer Umwelt, wie zum Beispiel Nahrungsmangel, Übervölkerung und anderes mehr. Die Autoren des vorliegenden Buches vertreten die letztgenannte Theorie von der durch Umwelteinflüsse „bedingten" Aggressivität. Die Bedeutung ihrer Gedankenführung liegt vor allem darin, daß sie die Triebthese der menschlichen Aggressivität mit der auch von Lorenz angewandten Methode der vergleichenden Verhaltensforschung widerlegen. Sie erhärten ihre These durch Beobachtungen an Affenpopulationen auf freier Wildbahn bzw. in der übervölkerten Überflußgesellschaft in unseren Zoos. So hat man feststellen können, daß Rhesusaffen in der Umgebung menschlicher Siedlungen aggressiver sind als auf freier Wildbahn; die meisten Menschen sind von Schimpansen in der Wildnis deshalb so beeindruckt, weil sie sich dort so friedlich wie nur vorstellbar verhalten; sind sie aber im Zoo, so können sie sich noch weit aggressiver verhalten als Paviane in der Wildnis. Russell & Russell halten es auf Grund der Beobachtungen der Verhaltensforscher für erwiesen, daß ein von Natur aus vorhandener, angeborener Aggressionstrieb, der bei der einen Affenart stärker als bei einer anderen in Erscheinung tritt, nicht existiert. Die Aggressivität ist vielmehr ein Verhalten, das innerhalb einer Gemeinschaft von Primaten immer dann auftritt, wenn deren Mitglieder besonderen Belastungen ausgesetzt werden. — Nach einer ausführlichen Beschreibung der weiten Skala von Aggressionshandlungen der unter Zoobedingungen lebenden Affen und dem Hinweis auf Parallelen bei menschlichem Verhalten unter Streß-Bedingungen folgern die Autoren, daß auch der Mensch in seinem tiefsten Wesen friedfertig sei. Wenn es in der menschlichen Gesellschaft zu Gewalttätigkeit und Terror kommt, desgleichen zu Aufruhr, Diktatur, Krieg und Bürgerkrieg, so nur unter dem Streß der Übervölkerung. — Die „Beweise" aus der „Geschichte der Gewalt" sind leider nicht immer überzeugend, weil zu pauschal erbracht; hier wurde wohl zu stark unter dem Gesichtspunkt der Übervölkerung vereinfacht und zuwenig detaillierte und nachprüfbare Belege aus der Fachliteratur erbracht. Außer der vielfach zu „zoomorphen“ Einschätzung des Menschen erscheint die Aggressivität allzu einseitig auf Nahrungsmangel und in den modernen Überflußgesellschaften auf Übervölkerung zurückgeführt. Desgleichen kann auch die Forderung: „Geburtenkontrolle muß an die Stelle von Gewalttätigkeit treten und diese nach und nach zurückdrängen", im letzten nicht befriedigen, wenn das Problem der „künstlichen" Übervölkerung in den modernen Großstädten mit allen daraus sich ergebenden Folgen, wie Lärmbelästigung, Verlust des Kontaktes mit der Natur, Beschränkung der Interessen und des Betätigungsdranges, Einsamkeit in der modernen Massengesellschaft und so weiter, nicht bewältigt wird. Man würde sich wünschen, daß der Begriff der Übervölkerung differenzierter verwendet würde; zudem wäre auch die Untersuchung anderer möglicher Ursachen der Aggressivität außer der Übervölkerung — oder wäre sie die einzige? — von größtem Wert; aber diese Fragestellung überschritt wohl den Rahmen der vorliegenden Untersuchung. Trotz aller dieser Fragen und Vorbehalte, die sich bei der Lektüre dieser an interessanten und treffenden Beobachtungen so reichen Untersuchung aufdrängen, verdient dieses Werk aufmerksame Beachtung, da es den Fragenkomplex der in unserer Überflußgesellschaft von Jahr zu Jahr bedrohlichere Ausmaße annehmenden Gewalttätigkeit analysiert und zum Nachdenken darüber anregt, wie der Friede innerhalb der menschlichen Gesellschaft gesichert werden kann.

UNSERE VETTERN, DIE AFFEN. Von Claire Russell und W. M. S. Russell. Einleitung von H. v. Dit- furth. Hoffmann und Campe, Hamburg, 1971. 360 Seiten.

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