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Sex-Tabu im Tierreich

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Der Konrad-Lorenz-Sohü- ler Norbert Bischof greift ein mächtiges wissenschaftliches Tabu an: Steht tatsächlich das Inzest- Tabu an der. Wiege aller menschlichen Kultur?

Für Claude Lėvi-Strauss, den Klassiker der Völkerkunde, stellt das Verbot sexueller Beziehungen zwischen Mitgliedern der Kernfamilie „den fundamentalen Schritt dar, dank dessen, durch den, aber vor allem in dem der Übergang von der Natur zur Kultur vollzogen wird…Das Inzestverbot ist der Prozeß, mit dem die Natur sich selbst überwindet.“ Auch Sigmund Freud stellt die Errichtung des Inzestverbotes an den Beginn der Kultur. Das Gegenteil einer Inzest-Schranke, nämlich der ganz und gar gegen-

teilige, auf die Mutter gerichtete Wunsch des Knaben, zählt bekanntlich zu den zentralen Motiven der Psychoanalyse.

Der Verhaltensforscher Norbert Bischof setzte sich mit einer bei Vertretern dieser Forschungsrichtung ungewöhnlichen Ernsthaftigkeit mit der Psychoanalyse auseinander beziehungsweise ihr aus - er unterzog sich einer „Informationsanalyse“ . Seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Freud verrät großen Respekt.

Aber er sieht die Ethologie, die Verhaltensforschung, heute in der Lage, die von Lėvi-Strauss wie von Freud vertretene Startschuß-

Theorie, mit dem Inzestverbot beginne die Entwicklung der Kultur, zu widerlegen. Er legt in seinem Buch „Das Rätsel Ödipus“ eine beeindruckende Fülle von eigenem und gesammeltem fremdem Beobachtungs- und experimentell gewonnenem Material vor, das dem Problem von zwei Seiten zuleibe rückt.

Beweisverfahren eins: Die eingangs zitierten Väter der noch immer weithin anerkannten Ansicht vom Ursprung der Kultur verfügten über geringes Wissen über das Sozial- und insbesondere Sexualverhalten der Tiere. Ihrer Startschuß-Theorie liegt das Vorurteil von einem äußerst undifferenzierten Paarungsverhalten der Tiere zugrunde. Diese Ansicht, welche die Ansicht ihrer Zeit war, ist falsch. Tatsächlich ist die Inzest-Hemmung bei so vielen Tierarten teils in der Feldbeobachtung, teils experimentell nachge wiesen worden, auch bei so vielen unserer näheren „Verwandten“ im Tierreich, daß allein die Wucht dieses Materials nahelegt, Inzestvermeidung im Paarungsverhalten sei viel älter als die frühesten Schritte zur menschlichen Kultur. Sie sei vielmehr Teil unseres genetischen Erbes.

Beweisverfahren zwei bildet die Suche nach Selbstzeugnissen und historischen Quellen über das Inzest-Tabu in frühen beziehungsweise „primitiven“ menschlichen Gesellschaften und human- ethologischem Beobachtungsmaterial.

Selbstverständlich kann der Inhalt eines 600-Seiten-Buches zu einem solchen Thema hier nicht einmal in Verkürzung einigermaßen wiedergegeben werden. Es ist jedem dringend ans Herz zu legen, der sich für das Tier-Mensch- Ubergangsfeld und für die Spuren unserer stammesgeschichtli chen Vergangenheit in der heutigen Gesellschaft interessiert. Aber auch jedem, der gern den Wechselwirkungen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften auf den Grund geht.

Bischofs Buch ist frei von jenen Verengungen des Blickwinkels, die auch Bewunderer des großen Verhaltensforschers Konrad Lorenz verprellen, sobald derselbe Konrad Lorenz sich über den Menschen und dessen Gesellschaft äußert. Bischof unterdrückt auch nichts. Er referiert selbst das, was sich seiner Beweisführung zu sperren scheint.

Freilich - er kann es sich leisten. Seine Beweise sind gewichtig. Die Verhaltensforschung liefert ihm reiches Material. Doch man darf nie vergessen, daß bis Ende 1966 beispielsweise der Beobachtung von 40 Primaten-Gattungen nicht mehr Wissenschaftler-Arbeitszeit gewidmet worden war als der

Untersuchung einer einzigen völkerkundlichen Zielgruppe.

Und daß die Beobachtung, über die der Großvater der Verhaltensforschung, Oskar Heinroth, 1910 berichtete, damals noch völlig allein auf weiter Flur dastand - nämlich, daß Gänsegeschwister einander sexuell meiden.

Dies mag die Wucht des Vorurteils erklären, das dazu führte, daß Edward Westermarck vor einigen Jahrzehnten aus theoretischen Gründen disqualifiziert wurde, obwohl seine in China an- gestellten Beobachtungen des erotischen Hemmeffektes primärer Vertrautheit damals nicht widerlegt werden konnten und heute als gesichert betrachtet werden müssen.

Darauf nämlich läuft alle Beobachtung und neue Theorie hinaus: Der Mensch entwickelt genauso wie das von Norbert Bischof eingehend studierte Federvieh (Bleßgänse) oder die von vielen Feldforschern beobachteten Primaten eine Sexualbarriere gegen die Vertrauten seiner frühen Kindheit, wodurch Inzucht von Geschwistern evolutiv vorgebeugt wird.

Arthur P. Wolf gelang in den fünfziger Jahren Westermarcks Ehrenrettung: Die in Teilen Chinas einst übliche „Kleine Hochzeit“ mit einer im Kindesalter ausgewählten und mit dem Bräutigam wie eine Schwester aufgezogenen Braut stößt bei ersterem auf gewaltige emotionale Widerstände, die Bindung in diesen Ehen ist besonders gering und sie mögen vor allem dazu dienen, die Macht der betreffenden Schwiegermütter zu festigen.

DAS RÄTSEL ÖDIPUS. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie. Von Norbert Bischof. Piper Verlag. München 1986. 624 Seiten, Ln., öS

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