Anwalt einer sauberen Wissenschaft

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Zum zehnten Todestag von Konrad Lorenz, Nobelpreisträger und Begründer einer Naturwissenschaft des menschlichen und tierlichen Verhaltens.

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Zum zehnten Todestag von Konrad Lorenz, Nobelpreisträger und Begründer einer Naturwissenschaft des menschlichen und tierlichen Verhaltens.

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Wenn mir der Liebe Gott - an den ich im übrigen nicht glaube - noch ein paar Jahre schenkt, dann werde ich noch ein Buch über Fische schreiben." So ähnlich äußerte sich der große österreichische Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz immer wieder gegen Ende seines Lebens, in der für ihn so typisch pointierten Art. Lorenz war Agnostiker, wie etwa 80 Prozent seiner naturforschenden Kollegen (laut einer 1998 in "Science" veröffentlichten Umfrage), zeigte aber immer Respekt vor den transzendentalen Neigungen anderer.

Der Arzt und Naturwissenschaftler war ein zutiefst moralischer Mensch, was im späten Lebensabschnitt auch seine Einstellung zur modernen Verhaltensbiologie beeinflussen sollte. Er handelte stets in einer sozial-verantwortlichen Weise. So kümmerte er sich 1944 bis 1948, während seiner Kriegsgefangenschaft, in einem Lager bei Eriwan tatkräftig um Physis und Seele seiner Mitgefangenen, geißelte in einem seiner bekanntesten Bücher, den "Acht Todsünden der zivilisierten Menschheit" (1971), die in seinen Augen krassesten Fehlentwicklungen unserer Zeit und war schließlich im Alter maßgeblich daran beteiligt, einige Errungenschaften eines blinden Fortschrittsglaubens von Österreich abzuwenden, wie etwa das Atomkraftwerk in Zwentendorf und ein Kraftwerk an einer der letzten freien Fließstrecken der Donau bei Hainburg.

Tatsächlich erinnern sich die Menschen an Konrad Lorenz auch als weißbärtige Vaterfigur der aufkeimenden Grünbewegung. Dieses Klischee ist zwar schön, aber falsch, weil er sich für die Sache, nicht aber für eine politische Richtung engagierte. Außerdem lenkt es von den wissenschaftlichen Leistungen und damit von der eigentlichen Bedeutung des Konrad Lorenz ab. Seine bereits angesprochene Abneigung gegen transzendentale Bezüge erklärt sich aus dem Lebensweg. Konrad Zacharias wurde am 7. November 1903 als später Sohn eines großbürgerlichen Elternhauses in Altenberg bei Wien geboren. Der Vater Adolf war selber ein berühmter Arzt. Und sein benediktinischer Biologieprofessor am Wiener Schottengymnasium vermochte zwar die Begeisterung des jungen Konrad für die Darwinsche Evolutionstheorie zu wecken, offenbar aber nicht für die Religion.

Bereits im zarten Alter von drei Jahren hielt Konrad Salamanderlarven in einem Aquarium und gewann so früh auf schmerzliche Art die Einsicht, daß Überbevölkerung zur letztlich tödlichen Ressourcenverknappung führen kann. Der Fünfjährige zog seine erste Ente vom Ei weg auf (schon gemeinsam mit Gretl, dem munteren Töchterchen des benachbarten Gärtners, seiner späteren Frau). Dabei lernte er das Phänomen der Sozialprägung kennen, welches ihn noch viel beschäftigen sollte. Und als er als 17jähriger gemeinsam mit Freund Bernhard Hellmann (der später aufgrund seiner jüdischen Herkunft im KZ verschwinden sollte) einem rabiaten Buntbarschmann in Folge einige Weibchen ins Aquarium setzte, dieser aber die ihm zugedachte Partnerin in übersteigerter Aggression jedesmal tötete, später jedoch, nachdem ihm die beiden jungen Männer zunächst bis zur Erschöpfung sein eigenes Spiegelbild bekämpfen ließen, sich tadellos mit dem nächstfolgenden Weibchen paarte, da sproß wohl der Keim jener Triebstauhypothese in Konrad Lorenz, welche beinahe ein halbes Jahrhundert später, vor allem im Zusammenhang mit der Aggression, zu heißen wissenschaftlichen Kontroversen führen sollte.

Trotz seiner klar erkennbaren Interessen durfte Konrad zunächst nicht Biologie studieren, weil der dominante Vater dies für eine brotlose Kunst hielt. Er verschrieb seinem Sohn ein Medizinstudium und schickte ihn die ersten beiden Semester an die Columbia University in New York, vor allem wohl, um die Verbindung zwischen ihm und Gretl auseinanderzubringen. Dieser väterliche Eheverhinderungsversuch schlug fehl, brachte aber den jungen Konrad in Kontakt mit Lloyd Morgan, wohl einem der größten Biologen seiner Zeit.

Letztlich legte das 1928 abgeschlossene Medizinstudium und der spätere Assistentendienst von Konrad Lorenz beim vergleichenden Embryologen Ferdinand Hochstetter ganz wichtige Grundsteine für seine spätere Theorieentwicklung. 1933 beendete Lorenz, damals bereits im internationalen Kollegenkreis für seine frühen Arbeiten zum Verhalten von Vögeln gefeiert, schließlich auch sein Biologiestudium mit einer Promotion über den Vogelflug am Zoologischen Institut der Universität Wien. Eine verhaltensbiologische Thematik - "Tierpsychologie" nannte man das Fach damals - wurde von der konservativen Professorenschaft nicht akzeptiert, unter anderem weil, wie es hieß, "man doch wisse, daß Tiere keine Seele hätten".

Der junge Konrad Lorenz war bereits ein eminenter Kenner tierlichen und menschlichen Verhaltens, und er nahm den Kampf gegen vermenschlichende Interpretationen tierlichen Verhaltens, gegen transzendentale Schlupflöcher oder gegen den unerträglich simplifizierenden Reduktionismus manch großer Psychologen und Biologen des noch jungen 20. Jahrhunderts auf. Als er um 1935 unbezahlt mit dem eminenten Psychologen Karl Bühler an der Universität Wien zusammenarbeitete, von diesem mit der maßgeblichen psychologischen Literatur der Zeit in Kontakt gebracht wurde, erkannte Konrad Lorenz das Ausmaß der vor ihm liegenden Aufgabe und nahm schaudernd die Herausforderung an.

Die Pawlowsche Reflexkettentheorie für die Entstehung von Verhalten ergänzten Lorenz und sein langjähriger kongenialer Partner und Mentor, der deutsche Physiologe Erich von Holst, um die Spontaneität. Zum Reflex trat die "Erbkoordination" (die "angeborene Triebhandlung"), zum einfachen Reiz die "Auslösemechanismen". Lorenz und von Holst stellten klar, daß nicht jeder Reiz oder Auslösemechanismus Verhaltensweisen in immer gleicher Weise abruft; die "Motivation", also die Summe der inneren Zustände, bestimmt die Handlungsbereitschaft ganz entscheidend mit. Die Lorenzsche Triebstauhypothese teilt das Schicksal von Konzepten anderer großer Naturwissenschaftler, es kam ihr die Allgemeingültigkeit abhanden; die Regel von gestern wurde also einmal mehr zum Sonderfall von heute. Aber das tut der Bedeutung von Konrad Lorenz als Begründer der Ethologie, also einer evolutionär fundierten Naturwissenschaft des tierlichen und menschlichen Verhaltens und auch als einer der größten Kommunikatoren unseres Faches keinen Abbruch.

Er war es auch, der auf die Bedeutung der "Lerndispositionen" hinwies, daß also Lernen und kognitive Vorgänge nur im Rahmen der erblichen Schemata möglich sind, womit die beliebige Freiheit des Menschen, wie vor allem von den US-amerikanischen Lerntheoretikern, allen voran Frederic Skinner, vorgeschlagen, eine selbstgefällige Illusion bleiben muß. "Kein einziger Lernvorgang kann verstanden werden, wenn man nicht das ganze System kennt, dessen adaptive Modifikation er bewirkt", schrieb Lorenz in "Die Rückseite des Spiegels" (1973). Diese Einsicht ist heute allseits anerkannt, die Mainstream-Psychologie benötigte allerdings ein halbes Jahrhundert länger als die Verhaltensbiologie, sich dazu durchzuringen.

Der junge Lorenz reagierte aber auch auf die zu Beginn dieses Jahrhunderts noch einflußreichen "Vitalisten" und nahm als Anwalt einer wissenschaftstheoretisch sauberen Naturwissenschaft Gegenposition ein. Er bestand darauf, daß alle Verhaltensäußerungen, alle psychisch-seelischen Vorgänge bis hin zum Bewußtsein auf physikalisch-chemische Vorgänge im Nervensystem zurückzuführen sein müssen, eine Ansicht, welche die Biowissenschaften im eben auslaufenden "Jahrzehnt des Gehirns" in spektakulärer Weise untermauerten. Die Vitalisten dagegen, etwa Jakob von Uexküll, de Beer oder auch Teilhard de Chardin, hielten den Instinkt noch immer für einen Ausfluß "göttlichen Hauchs", einer Erklärung weder zugänglich, noch bedürftig. Diese Vermengung von Naturwissenschaft mit Ideologie, von Biologie mit Transzendentalem war nicht nach dem Geschmack des materialistischen, reduktionistisch-mechanistisch orientierten Naturwissenschaftlers Konrad Lorenz. Zutiefst im Inneren hütete er offenbar eine tiefe Abneigung gegen Deduktionismus und Ideologie, gleich, ob religiösen oder politischen Ursprungs. Für einen echten Naturwissenschaftler sind die Schlüsse über diese Welt aus der empirisch aus ihr gewonnenen Erkenntnissen zu ziehen; Versuche, die Erscheinungen der Welt über vorgefaßte Meinungen zu erklären, sei das nun religiöser Glaube, politische Ideologie oder pseudowissenschaftliches Vorurteil, waren tatsächlich nie erkenntnisträchtig.

Aber gerade hier zeigt sich ein greller Widerspruch im Lebensweg von Konrad Lorenz. Der Agnostiker und Ideologieskeptiker sympathisierte zumindest anfangs mit dem Nationalsozialismus und trat 1938 der NSDAP bei. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Lorenz war, wie fast alle Biologen seiner Zeit, überzeugter Eugeniker, und das neue Regime ging daran, konkrete Maßnahmen zur "Verbesserung der Volksgesundheit" zu setzen. "Volksarzt und Rassepfleger" kümmerten sich zunächst um die "Einschränkung der Reproduktion" bei Trägern von Erbkrankheiten, später auch zunehmend um die "Vernichtung unwerten Lebens". Man kennt das grauenhafte Ende.

Lorenz bedauerte nach dem Krieg seinen Irrtum, hielt aber lebenslang am Vorurteil von der "Verhausschweinung des Menschen" fest, also an der Idee einer degenerativen, zivilisationsbedingten "Selbstdomestikation". Ein Blick in den Spiegel oder auf unsere junk-food-abhängige, schmärbäuchige, genuß-und sexsüchtige Gesellschaft läßt diesen Gedanken bestechend erscheinen, sie ist jedoch wissenschaftlich unhaltbar. Eines der hervorstechendsten Merkmale domestizierter Tiere ist ihr reduziertes Vorderhirnvolumen. Und gerade das ist bei uns Menschen in jüngster evolutionärer Vergangenheit geradezu explodiert. Auch sind moderne Zivilisationsmenschen weder sensorisch noch bezüglich ihrer Instinkte "degeneriert", wie man gelegentlich hören kann. Auch der sonst so ideologiescheue Lorenz klebte also fest am Leim des eigenen Vorurteils. Der Wert seines wissenschaftlichen Hauptwerkes bleibt davon allerdings unberührt. Völlig zu Recht wurde Konrad Lorenz daher 1973 gemeinsam mit Niko Tinbergen und Karl von Frisch der Nobelpreis für Medizin verliehen.

Als Konrad Lorenz 1944 in russische Kriegsgefangenschaft fiel, waren seine wichtigsten fachlichen Entwicklungen schon gelaufen. 1950, zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Lager, gründete die deutsche Max-Planck-Gesellschaft, das erste Institut für Konrad Lorenz im norddeutschen Buldern. Seine Berufung auf einen Lehrstuhl der Universität Graz wurde vom damaligen Unterrichtsminister Hurdes angeblich mit der Begründung abgelehnt, daß Lorenz "Darwinist" sei. Wohlgemerkt, man schrieb das Jahr 1950, fast 100 Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins Hauptwerk ... Knapp zehn Jahre später übersiedelte Konrad Lorenz mit seinen Mitarbeitern an das neu gegründete Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie im süddeutschen Seewiesen, wo er 1973 emeritierte.

Als der 70jährige, frischgebackene Nobelpreisträger nach Österreich zurückkam, Altenberg und seine neue Konrad-Lorenz-Forschungsstelle für Ethologie in Grünau/Almtal bis zu seinem Tod als Institute der Österreichischen Akademie der Wissenschaften führte, war er bereits durch Nobelpreis, Medienauftritte und auch heute noch durch populäre Bücher wie "Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen" (1949) oder "So kam der Mensch auf den Hund" (1950) allseits bekannt und geachtet. Lorenz war übrigens nach den Medizinern Wagner-Jauregg und Landsteiner, sowie dem Physiker Schrödinger der vierte und bisher letzte österreichische Nobelpreisträger, sieht man von einigen geborenen Landsleuten ab, wie zum Beispiel dem Physiknobelpreisträger von 1998, Walter Kohn, die zwar vertrieben, nach 1945 aber niemals zurückgebeten wurden.

Nicht alle der Lorenzschen Konzepte mögen den Test der Zeit bestanden haben, aber darauf kommt es letztlich gar nicht an. Lebendige Naturwissenschaft zeichnet sich geradezu dadurch aus, daß sie ständig ihre eigenen Väter frißt, denn die waren ja die Revolutionäre von gestern. Unbestritten bleibt der ungeheuer befruchtende Einfluß von Konrad Lorenz auf Verhaltensbiologie, Psychologie und auf die gesamten Naturwissenschaften. So wird er es wohl vertragen, daß man seiner auch als weißbärtigen Guru der frühen Grünbewegung, als "Vater der Graugänse", oder in Form anderer dümmlicher Klischees gedenken wird; die Eiche mag ihre Blätter verlieren, verrotten wird sie deswegen nicht.

Der Autor ist Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle für Ethologie in Grünau.

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