Ein typischer Bernhard-Text?

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Ein Selbstinterview

Wann und wo hielt Bernhard die hier abgedruckte Rede?

Am Sonntag, 30. Januar 1977, 11 Uhr, Schauspielhaus Zürich, im Rahmen einer "Gedenkstunde für Carl Zuckmayer". "Zuck" war am 18. Januar, kurz nach seinem 80. Geburtstag, gestorben und wenige Tage später in Saas-Fee, seinem letzten Domizil, begraben worden. Zürich und das Schauspielhaus waren für ihn ein wichtiger Ort gewesen: Hier hatte im November 1938 die letzte deutschsprachige Uraufführung eines Stückes von ihm ("Bellmann") vor seiner Emigration nach den usa (1939) stattgefunden, hier ging im Dezember 1946 seine erste Premiere nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über die Bühne: "Des Teufels General".

Wer wirkte noch mit an der Matinee?

Nach Thomas Bernhard würdigte der Intendant Harry Buckwitz, der auch die Texte von Zuckmayer ausgewählt hatte, dessen Werk. Es lasen: Peter Ehrlich, Margrit Ensinger, Gustav Knuth, Hans-Gerd Kübel, Leopold Lindtberg, Helmut Lohner, Dorothea Parton, Gert Westphal, Hans-Dieter Zeidler.

Also ausnahmslos Regisseure und Schauspieler, die Zuckmayers Stücken zum Erfolg verhalfen. So spielte Bernhard an diesem Morgen wohl die Rolle des alten Freundes.

Zu Recht. Die Zuckmayers kannten Bernhard seit seiner frühesten Kindheit. Alice und Carl Zuckmayer hatten 1926 in Henndorf (am Wallersee, bei Salzburg) ein Wohnhaus gekauft, die "Wiesmühl". 1935 ließ sich Bernhards Großvater Johannes Freumbichler mit seiner Gefährtin Anna Bernhard und dem vierjährigen Enkel Thomas in Seekirchen nieder, einem Holzhaus auf der Bräuhaushöhe, wodurch der erfolgreiche und der erfolglose Schriftsteller fast unmittelbare Nachbarn wurden. Ein Jahr später redigierte Alice Zuckmayer Freumbichlers Romanmanuskript "Philomena Ellenhub", ein weiteres Jahr später erschien das Buch, von Carl Zuckmayer lanciert und besprochen, im Wiener Zsolnay Verlag. 1946 nahmen die Freumbichlers wieder brieflichen Kontakt mit den Zuckmayers auf.

Es stand also wieder einmal der Großvater Pate.

Alice Zuckmayer vermittelte Bernhards erste literarische Publikation außerhalb Österreichs:

Das Gedicht "Mein Weltenstück" erschien am 22. April 1952 im Münchner Merkur, weil sie dem Feuilletonchef der Zeitung den 21-jährigen Autor als recht begabt empfohlen hatte. Sie habe bei seinen Gedichten zwar häufig das Bedürfnis, von fünf Strophen drei zu streichen, der Rest sei aber gut. Im ersten Buch Bernhards, der Gedichtsammlung "Auf der Erde und in der Hölle", 1957 in Salzburg publiziert, ist ein Blatt mit einem Lob Zuckmayers eingelegt: "Vielleicht sind diese Gedichte die größte Entdeckung, die ich in den letzten zehn Jahren in unserer Literatur gemacht habe ... Sie tragen die Merkmale großer moderner Dichtung und kommen aus derselben Welt, die auch die Musik eines Bela Bartók hervorbrachte: aus dem Rhythmus eines ganzen Volkes." Und das erste Prosabuch, "Frost" (1963), bespricht Zuckmayer in der Zeit: "Ich halte das Buch für eine der stärksten Talentproben, für eines der aufwühlendsten und eindringlichsten Prosawerke, die seit Peter Weiss von einem Autor der jüngeren Generation vorgelegt worden sind."

Man sieht: Zuckmayer hat den jüngeren Kollegen in der Tat schon ganz früh "begleitet", weshalb Bernhard ihm Dank abstattet. Das konnte er dem Lebenden gegenüber anscheinend nicht. So schrieb er etwa am 5. März 1959 an Alice Zuckmayer: "... alles, was damit zusammenhängt [gemeint sind die ersten Bücher von Th. B.], hat seinen Ursprung zu einem hohen Maß von Ihrer Wegbereitung, die mich die letzten 10 Jahre sehr stark begleitete - ohne daß Sie und Ihr Mann es vielleicht wissen ... wie traurig macht es mich oft, Ihnen nicht geschrieben zu haben usw. aber das konnte ich einfach nicht, irgendeine Stimme, oder aber auch ein Gesetz, haben es mir verboten, verwehrt."

Und das Nachholenwollen eines öffentlichen Danks darüber hinaus auch an den Förderer des verehrten Großvaters - obwohl dessen Name nicht fällt - wird der Grund gewesen sein, weshalb Bernhard, wie nur ganz selten, als Vortragender agiert hat.

Redet Bernhard hier nicht einen typischen Bernhard-Text, ohne auf Werk oder Leben des Toten einzugehen?

Auf den ersten Blick ist dies richtig. Bernhard redet wie bei früheren öffentlichen Auftritten oder wie eine aus seinen Büchern herausgetretene Figur über den Tod als den großen Dominator. Folgende Äußerung stammt allerdings von Zuckmayer: "Die Todesbestimmtheit, für alle Kreatur, bedeutet die Bereitschaft und den Beruf zum Eingang ins Allgültige, in den Quell und Mutterschoß des Lebens. Aufs Kunstwerk angewandt, ... bedeutet jeder Schritt zur Erfüllung und zur Reife einen von vielen Schritten zum Tod, zum Tor des Todes hin ...". Also bezieht sich Bernhard doch direkt auf Zuckmayer.

Oder ungeschützt als These mit Fragezeichen: Hat Bernhard seine Prämisse der Todesverfallenheit vielleicht modifiziert von Zuckmayer übernommen?

Das ist überinterpretiert: Bernhard kennt den ungeschützt positiven Satz von Zuckmayer: "ich liebe das Leben" und verweist deshalb auf die "Gegensätze" und auf die "Unheimlichkeit" als Voraussetzung der Beziehung zwischen ihnen beiden.

Wenn dem so ist: Wie erklärt sich dann die gegenseitige "Zuneigung"?

Ganz einfach: beide haben eine Zeit gemeinsam im selben Paradies verbracht. Die Belege für diese These: Zuckmayer schreibt in seiner Autobiographie "Als wär's ein Stück von mir" (1966): "Wenn man mich damals [zwischen 1926 und 1938] gefragt hätte, wo das Paradies gelegen sei, so hätte ich ohne Zögern geantwortet: in Österreich, sechzehn Kilometer östlich von Salzburg an der Reichsstraße, dicht beim Wallersee. Vielleicht erstreckte es sich von da [von Henndorf] bis in den Thalgau und nach Mondsee hinüber ... Es war keine Stätte der Wunschlosigkeit, doch barg es den Kern des Glücks ..."

Bernhard schreibt in seiner autobiografischen Erzählung "Ein Kind", 1982 (über den Beginn des Jahres 1938, als er ohne die Großeltern nach Traunstein umzieht): "Es war mir nicht begreiflich zu machen, daß Seekirchen zuende sei. ... Die Katastrophe bedeutete, Abschied zu nehmen von allem, das zusammen tatsächlich mein Paradies gewesen war."

Beide wurden durch fremde Mächte (erster durch den "Anschluss" Österreichs an Hitlerdeutschland, zweiterer durch Beschluss der Eltern) aus dem Paradies gejagt.

Das soll jetzt ja wohl zum Schluss der Rede überleiten, in der im Zuckmayer-Zitat der hohe Ton angeschlagen wird. Ist das letzte Wort, »Erkennen«, im biblischen Sinn gebraucht?

Bei Zuckmayer gewiß. Doch für Details ist hier nicht der Platz. Nachzulesen ist es in: "Die langen Wege. Ein Stück Rechenschaft", erschienen Ende November 1952. In dieser Broschüre begründet er sein gesamtes literarisches Schaffen und sein Wissen um die Menschen mit dem "Gehen auf langen Wegen". (Nebenbei: Hier findet sich auch eine kleine Etude über das Verhältnis von Gehen und Denken, eines der elementaren Bernhard-Themen.) Und am Ende des Abschnitts, der vom "Alleinsein und von der Bewegung" handelt, steht die von Bernhard zitierte Passage. Sein Urteil über das Buch hat sich in zwei Jahrzehnten nicht geändert: Er teilte Alice Zuckmayer unter dem Datum des 14. Dezember 1952 mit: "Ich lese gerade in den ,langen Wegen'; allein der Titel nahm, nimmt mich gefangen. In ihm liegt doch schon alles! Ein schönes, ruhiges, großes Buch."

Und warum wurde diese Rede Bernhards bisher weder jemals bibliografisch verzeichnet noch gedruckt?

Tja. Von ihrer Existenz hätte man wissen können. Die Neue Zürcher Zeitung zum Beispiel berichtete ausführlich über die Veranstaltung. Thomas Bernhard schenkte das Manuskript seinem im Publikum sitzenden Verleger Siegfried Unseld. Der ordnete es seiner Autografensammlung zu. Als die nach seinem Tod für das Siegfried Unseld-Archiv gesichtet wurde, zeigte sich, dass sie einen ungedruckten Text von Thomas Bernhard barg.

Der Autor ist Lektor im Suhrkamp Verlag und dort u. a. für die Werke von Thomas Bernhard zuständig.

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