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Der Gang des Geistes

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Nie wurden so die Letzthaltungen des Menschen untersucht als in der Epoche nach diesem letzten Krieg, der die Fundamente des Menschen dem forschenden Auge zur Nachprüfung bloßlegte. Eine breite Grundlagenforschung des Menschen ist bis heute schon entstanden, der auch das vorliegende Buch von Robert Heiß angehört. Der Verfasser liefert mit seinem Buche einen höchst bedeutsamen und entscheidenden Beitrag zu der Frage, die heute alle angeht: wieso es soweit kam. Er handhabt in seiner Untersuchung eine Methode, die sich von dem heute im Vordergrund stehenden Bemühen, die große Katastrophe aus der Säkularisierung, aus der Gottferne des Menschen abzuleiten, wie zum Beispiel bei Chr. Dawson oder W. Rehm, unterscheidet. Für ihn steht nicht die gestörte Gott-Mensch-Beziehung als heuristisches Prinzip, sondern die Phänomenologie des Geistes, wenn auch nicht rein Hegelscher Prägung, im Vordergrund des Interesses. Daraus ergibt sich weiter, daß er nicht etwa Philosophie-oder Geistesgeschichte im üblichen Sinne schreibt. Denkgeschichte ist ihm Wirkungsgeschichta, Selbstentlarvung des neuzeitlichen Geistes. Ich hebe nur die entscheidendsten Merkmale des Geistes nach Heiß hervor: Zunächst gibt es keinen einheitlichen „großen Gang des Geistes“ wie noch im Mittelalter, sondern es macht einen Wesenszug des neuzeitlichen Geistes aus, daß er „Vielfalt“ hat und daß sein letzter metaphysischer Gegenstand die „unbekannte Wahrheit' sei. Daher unterscheidet er von vornherein die Verteidiger der „universalen Vernunft“ von einem zweiten Gang des neuzeitlichen Geistes, dem nicht Systematiker, sondern AphorisUker, deren Tempo sich in Aphorismus, Epigramm und Anekdote am besten formuliert, angehören. Natürlich betont der Verfasser auch, eine dritte Gruppe von Denkern, die den Ausgleich von universaler Vernunft und dem Leugnen einer solchen zum Gegenstand ihrer denkerischen Bemühungen gewählt haben. Von besonderer Aktualität sind die Ausführungen des Verfassers über die „Künder der Unruhe“, denen die Hälfte des Buches gewidmet ist: Marx, Kierkegaard und Nietzsche, Während Hegel als letzter Verkünder der universalen Vernunft dargestellt wird, erscheinen die drei Genannten als die endgültigen Vernichter des Glaubens an eine rationale Weltordnung. So führt uns diese bedeutende Geistesgeschichts der Neuzeit von Luther, Thomas Morus, Ko-pernikus, Descartes, Spinoza und Bacon über Leibniz, Galilei, Montaigne, Pascal, Rousseau, Voltaire, Kant, Hegel, Marx bis Kierkegaard und Nietzsche. Daß der Autor über Nietzsche hinausgreift, zeigen zum Beispiel die wichtigen Ausführungen über die phänomenologische Methode, in denen er bis zu Husserl vorstößt. Mit dem Bild der gegenwärtigen Krise, ihren Aspekten und Horizonten schließt dieses bemerkenswerte Buch, daß trotz seiner 400 Seiten nicht allen Denkern der Neuzeit genügenden Raum gewähren kann — so erscheinen Goethe und Schiller nur gestreift —, das aber als Ideengeschichte der Neuzeit von großartiger Logik eines geschichtlichen Denkens Zeugnis ablegt.

Wichtiger noch als das geschichtliche Moment erscheint mir fast der Beitrag des Autors zur Phänomenologie des Geistes überhaupt denn er sieht in der Geschichte eine Selbstentfaltung des Geistes, deren verschiedene Stadien in der hier vorliegenden Darstellung höchste Beachtung verdienen. So sei besonders auf die Darstellung der Selbstentfremdung des Geistes, die schon Nietzsche und Thomas Mann betonten, verwiesen. Das interessante Buch liest sich wie ein Nekrolog des Geistes der Neuzeit, dessen Epoche manche Denker bereits als abgeschlossen erachten. Eine solche Abrundung will der Autor seiner Darstellung aber nicht geben, und so schließt das Buch eher mit Fragen als mit Antworten, was durchaus als Vorteil zu werten ist.

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