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Grundlagen eines philosophischen Weltbildes

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Vom Brahma zur Existenz. Von Leo Gabriel. Die Grundformen aller Erkenntnis und die Einheit der Philosophie. Verlag Herold, Wien-München. 1954. 362 Seiten.

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Vom Brahma zur Existenz. Von Leo Gabriel. Die Grundformen aller Erkenntnis und die Einheit der Philosophie. Verlag Herold, Wien-München. 1954. 362 Seiten.

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Wir leben in einer Zeit, in welcher der geistige Horizont der einzelnen Menschen sehr beschränkt ist. Auch wissenschaftliche Arbeiten gehen oft über ihren engeren Bereich nicht hinaus. Hier wird uns aber ein Werk an die Hand gegeben, welches unter weitesten geistesgeschichtlichen Aspekten unsere philosophische Vergangenheit in eins schaut und uns entwicklungsgeschichtlich die Elemente aufzeigt, welche für die Gegenwartsphilosophie ihre vordringliche Bedeutung haben. Darum kann das Buch nur jedem empfohlen werden, welcher sich bemüht, sein philosophisches Weltbild nicht allein aus dem Augenblick heraus zu gestalten. Man müßte meinen, es sei nicht möglich, in einem Band das weite Thema vom Brahma zur Existenz gewissenhaft zu behandeln. Hier ist es aber auf Grund der eingehenden Fachkenntnis des Verfassers gelungen, und gerade solche Veröffentlichungen gehören mit zu den schwersten. Von besonderem Reiz sind die häufigen, von viel Weisheit getragenen Gedankenbeziehungen und schlagartigen Ausblicke, die geboten werden. Das Studium verlangt schon eine gewisse Vorkenntnis der früheren geistigen Epochen und kann auf die Interessenten, welche sich bereits mit der Materie befaßt haben, sehr befruchtend wirken.

Die Darstellung der Vergangenheit zielt zugleich darauf ab, die philosophischen Systeme unter dem Gesichtspunkt der dreifachen, immer wieder in charakteristischer Weise sich herausbildenden Ty- pik der Theoretik (letzte Folgerung der Idealismus), des logischen Systems (letzte Folgerung der Realismus) und der Empirie (letzte Folgerung der Materialismus) zu betrachten. Auch sie kündigen sich bereits im indischen Denken an. Schon die Rigveda bemüht sich um „objektive Sinnverständlichkeit". Auch die Unterscheidung von gegenständlichem Denken und Logik des Grundes ist hier aufweisbar, welche für das eigene Denken des Verfassers von ausschlaggebender Bedeutung ist.

In der griechischen Philosophie wird dargelegt, wie seit Parmenides das Sein als Denken zum Gegenstand wird. Das theoretische Prinzip wird zum weltkonstruierenden, aber auch das Selbstbewußtsein wurde von Sokrates entdeckt. Entscheidend bleibt nun das Noumenon, die Idee als gestaltende Gestalt (Plato), die Denkordnung als Seinsordnung (Aristoteles). Es schließt sich schließlich der Empirismus Epikurs an. Der Dreitakt läßt sich wiederum in dem Kapitel „Gott und Welt“ über die christliche Philosophie des Mittelalters abheben. Von Augustinus sei durch die Selbsterkenntnis als Grundlage der Gotteserkenntnis und in der Verbindung von Erkennen und Lieben eine neue Dimension erschlossen worden. Thomas verbindet Form und Individuum, die Essentia mit der Existentia. Dann aber entstehe im Nominalismus die ontologische Dissonanz, weil die Existenz eben auf dem bisherigen Weg nicht faßbar bleibe. Darüber hilft auch nicht die Haecceitas, die individuelle Formgestalt des Duns Scotus im 14. Jahrhundert hinweg. Wir spüren, wie hier das Thema der Gegenwart, welches nach der Existenz fragt, schon aufgeworfen wird.

Die neuzeitliche Philosophie bietet nun ein reiches Bild entsprechend dem Dreitakt von Theoretik, logischer Systematik und Empirie. Aber sie ist nach Gabriel die immer stärkere dialektische Aufspaltung von Existenz und Essenz. Wahr ist im Rationalismus, was klar ist. Die Existenz geht in die Essenz über. Gabriel sieht trotzdem tief in die nominalistische Wurzel dieses Denkens, das sich auf die veracitas Dei beruft, auf Gottes Willenssetzung und nicht auf die innere Forderung. Aber auch im Empirismus beobachten wir nach ihm die Ausschaltung der Existentia, so daß selbst für Humes das esse ein percipi wird, das Sein zu mathematisch mechanischen Erfahrungsgrößen und ihren Begriffen. —- Der neue Ansatz bei Kant hilft zunächst über die reine Gegenständlichkeit und ihre Konstruie- rung, wenn auch transzendentaler Art, nicht hinaus. Das aber sei bei der „Idee” Kants anders; denn sie ist nicht rational erfahrbar und konstituiert nicht einen denkbaren Gegenstand, womit etwas Entscheidendes von ihm gefunden sei. Sieht er doch zugleich auch, daß Existenz nicht ein Merkmal neben anderen ist. Wenden wir uns dem deutschen Idealismus zu, so ist zu sehen, daß durch seine Dynamisierung nicht viel gewonnen werden konnte. Die extremste Form begegnet uns dann im logischen Idealismus eines Natorp, wo schließlich alles zum Gedachtwerden als einer von uns vollzogenen Gegenständlichkeit wird. — Wird auch — meint dann der Verfasser — die Wirklichkeit von Schopenhauer der Vernünftelei des reinen Denkens gegenübergestellt, so vollzieht er aber doch den klaffenden Riß von Existenz und Essenz. Nach Aufzeigung des neueren gegenständlich intentionalen Denkens von Brentano über Husserl mit seiner „Immanenzbefangenheit" zu Scheier, dessen metaphysische Wertethik der Verfasser offensichtlich als einen großen Gewinn ansieht, stehen wir — Nicolai Hartmann kommt nicht zu Worte — vor Jaspers und Heidegger. Die durch die geschichtliche Entwicklung wesensnotwendig gewordene Frage nach der Existenz, dem ek-sistere, und der Wiederaufnahme der Frage dieses Philosophen nach dem Sinn vom Sein wird in ihrer großen Bedeutung, wenn auch nur kurz, gewürdigt.

Nun erfolgt die eigene Stellungnahme des Verfassers, der entscheidende Teil des Werkes. Die Philosophie kreist, auch geschichtlich, immer um die drei schon genannten Grundhaltungen der Theoretik, Logik (in dem weiteren Sinne ihres kritischen Ansatzes) und Empirik, was in einem Schema anschaulich dargestellt wird. Ihnen entspricht jeweils die Tendenz zum (spekulativen) Idealismus, zum Noumenon, alsdann zum Realismus und seiner kritischen Synthese und schließlich zum Materialismus; freilich letzterer nur bei skeptisch-empirischer Einseitigkeit; denn auch phänomenologisches Verhalten, Lebensphilosophie und Existenzphilosophie gehören zur Empirik. Besondere Beachtung wird der Reflexion geschenkt und der dadurch bedingten Gegenständlichkeit. Wir müssen aber die idealistisch subjektive Konstitution von der an die Dingerfassung gebundenen realistischen unterscheiden, deren vielseitiges Recht Gabriel heraushebt. Aber wir verweilen in beiden Fällen bei der die Subjekt-Objekt-Stellung bedingenden gegenständlichen Repräsentation, schließlich als Sinnbild, Symbol, Begriff gefaßt. Es habe aber notwendig den Schwund der Transzendenz zur Folge und die Philosophie besitze eine noch entscheidendere Aufgabe.

Sie fragt nach Gabriel nicht nur nach der Logik des Gegenstandes, sondern wesentlich nach der Logik des Grundes, in welcher das gegebene Bild und das Noumenon im verlöschen ist. Es ist das Vordringen zur Wurzel, und hier vermag Gabriel ganz neue Aspekte aufzureißen. Wir stimmen ihm gern zu, daß solche Letztlichkeiten sich nicht durch logische Intentionalität beantworten lassen. Oft stehen wir vor der Situation, daß letztes Sinnverständnis nicht mitteilbar in gegenständlichen Begriffen ist, sondern nur durch ein Hinführen und Selbstvollziehen gewonnen oder durch das Bemühen, sich in den Grund zu versenken oder zu vertiefen, erreicht werden kann. Wir müßten gegenstandslogisches Denken als Voraussetzung und die grundlogische Weise der Begründung als onto-logisches unterscheiden und zu verbinden suchen. Dann ergibt sich erst eine integrale Logik, welche ganzheitlicher Natur ist. Es ist schließlich das Ideal, zu dem wir hinstreben müssen.

Der Verfasser, der uns solch großen Auftrag gibt, wird gewiß diesen seinen neuartigen Versuch in künftigen Werken uns noch eingehender entwickeln. Es liegt offensichtlich das Fragen Heideggers nach einem „denkenderen Denken" in verwandter Weise vor, wird aber von Gabriel in seiner Notwendigkeit aus dem historischen Gesamtaspekt uns nahegebracht. Wir erwarten darum von einem Denker wie Gabriel, der über ein solch umfassendes historisches Wissen verfügt, eine vertiefende Klärung unserer gegenwärtigen zentralen philosophischen Problematik. Der philosophisch interessierte Leser wird mit reichem Gewinn sich in sein Werk „Vom Brahma zur Existenz" vertiefen und aus ihm einen Leitfaden für die eigene philosophische Gedankenwelt gewinnen können.

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