Spiritueller Verunsicherung begegnen

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Religionen sind - anders als in früheren Epochen - heute nicht mehr geografisch oder ethnisch einzugrenzen. Die Weltgesellschaft ist angehalten, ihr kulturelles Gedächtnis zu aktivieren.

Eines der sicheren Anzeichen, dass wir Zeitgenossen einer entstehenden Weltgesellschaft sind, ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Auch wenn Staaten wie die USA, China oder Saudi-Arabien das Rom-Statut bisher nicht ratifiziert haben, und deren Staatsbürger daher nicht in die Zuständigkeit des erst seit 1998 bestehenden Gerichtshofs fallen, ist der bis vor kurzem undenkbare Umstand, dass es ein über Staatengrenzen hinweg geltendes Strafrecht geben kann, ein deutliches Indiz dafür, dass allmählich neue, weltweit verbindende und verbindliche Strukturen entstehen. Dieses neue Bild einer Weltgesellschaft, die kulturelle und ethnische Grenzen respektiert und zugleich verbindet, wird die immer noch wirksame Kulturkreis-Theorie der Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts ersetzen - dafür sorgt schon die globale wirtschaftliche Interdependenz.

Die spirituelle Verunsicherung in dieser entstehenden Weltgesellschaft ist groß - denn die alten Regeln, nach denen die Religionen kulturell und geografisch begrenzt sind, gelten nicht mehr. Im norddeutschen Bremen, einer Stadt mit rund 500.000 Einwohnern und starker protestantischer Tradition, wirken etwa zwei Priester der afro-amerikanischen Vodou-Religion. Moscheen, buddhistische Zentren oder hinduistische Tempel finden sich heute in jeder größeren Stadt im deutschen Sprachraum ebenso wie zwischen Nairobi, Teheran und Peking, Stockholm, Rio de Janeiro oder New York. Die Notwendigkeit, neue spirituelle Identitäten zu finden, führt die einen in fundamentalistische Gruppierungen, in denen sie Halt suchen, andere in eine unstete Suchbewegung, wieder andere zur Ablehnung von Religion.

Das Christentum im Zugzwang

Die globalen Veränderungen der mentalen Landkarten bringen auch das Christentum in Zugzwang. Evangelikale Gruppen bieten vielen eine emotional intensive Spiritualität, die ohne viel Reflexion auskommt. In Afrika kann das tödlich enden, wenn Frauen mit Unterstützung örtlicher evangelikaler Pastoren als Hexen verfolgt werden. Dass diese Hexenjagden ökonomische Wurzeln haben, wird oft übersehen. Christliche Spiritualität in der Weltgesellschaft kann es sich nicht leisten, derartige Ereignisse zu ignorieren oder einfach "der Magie“ in die Schuhe zu schieben.

Mit den großen Weltreligionen - mit Juden, Muslimen, Buddhisten, Hindus - gibt es seit den 1960er Jahren Austausch auf unterschiedlichsten Ebenen - theologisch, institutionell, aber auch im alltäglichen Leben. Das Zweite Vatikanische Konzil hat den interreligiösen Dialog auch für andere christliche Konfessionen geöffnet als Weg zu einer tragfähigen christlichen Spiritualität in einer globalen Gesellschaft. Doch es gibt blinde Flecken. Dies zeigte sich beim Papstbesuch in Kuba - einem Land, in dem etwa die Hälfte der Einwohner Katholiken sind, aber die meisten zugleich auch Anhänger der afro-amerikanischen Volksreligion Santería. Zwar suchte die katholische Kurie das Gespräch mit den kommunistischen Machthabern, aber nicht mit den Vertretern der Volksreligion.

Schwierige Verhältnisse

Das Verhältnis zu afro-amerikanischen Religionen wie Vodou, Santería oder Candomblé und zu anderen traditionellen, an Ethnien gebundenen Religionen ist immer noch schwierig, und nicht nur von seiten der katholischen Kirche. Der Einfluss des 19. Jahrhunderts ist auch hier spürbar: damals gingen Ethnologen davon aus, dass es sich bei diesen traditionellen Systemen um primitive Vorformen der sogenannten Hochreligionen handle. Irrationalität und Angst seien die Treibkräfte dieser "Stammesreligionen“.

Dass dem nicht so ist, zeigt eine beeindruckende Ausstellung im Übersee-Museum Bremen: Vodou: Kunst und Kult aus Haiti (zu sehen bis 29.4.) aus der Sammlung Marianne Lehmann. Lehmann, eine Schweizerin, die seit mehr als 50 Jahren in Haiti lebt, begann Mitte der 1980er Jahre Vodou-Kunst zu sammeln. Die Ausstellung ist im besten Sinne des Wortes herausfordernd - denn sie führt so direkt, wie dies in einem Museum möglich ist, in die Welt des Vodou von Haiti ein. Die "weiße“ Fehleinschätzung des "schwarzen“ Vodou zeigt sich schon in der Schreibweise.

Das westafrikanische Wort Vodún bedeutet "Gottes Geist“, sagt der haitianische Biochemiker und Vodou-Priester Max Beauvoir in einem Video, das in der Ausstellung zu sehen ist. Vooodoo heißt es dagegen beispielsweise im James-Bond-Film "Leben und sterben lassen“, die eine Zeremonie zu Ehren des "Baron Samedi“ als bösartigen Schwindel darstellt.

Die Bildwerke und Altäre - vielfach in dunklem Rot, Weiß und Schwarz gehalten, vermitteln den intensiven Eindruck einer Frömmigkeit, die um ihre eigene Wirksamkeit weiß. Selbst im Museum wird die Präsenz dieser Gestalten fühlbar. Sie verkörpern Ahnen und wichtige Gestalten der Freiheitskämpfe in Haiti, aber auch Gottheiten, die mit den afrikanischen Sklaven aus Westafrika gekommen sind. Praktiziert wird diese Religion bis heute von vielen westafrikanischen Ethnien - etwa im Togo, Benin, Ghana oder Nigeria, und auch in Lateinamerika.

Viele Vodou-Gottheiten erscheinen als christliche Heilige - als heiliger Andreas, Jakobus, Philipp, aber auch als die Gottesmutter Maria. Dies war die Camouflage, die die vielfach zwangschristianisierten afrikanischen Sklaven für ihre eigene Religion wählten.

Die Doppeldeutigkeit der Bilder zeigt an, welchen Preis das Christentum zu zahlen hätte, würde es mit den afro-amerikanischen Religionen ins Gespräch kommen wollen: Sklaverei wurde bis ins 19. Jahrhundert von christlichen Kirchen unterstützt und genutzt; die kolonialen, eurozentrischen Vorurteile müssten dringend aufgearbeitet werden.

Erinnerung an Verdrängtes

Die Vodou-Gottheiten erinnern auch an Verdrängtes aus der eigenen Spiritualität - etwa die intensive Heiligenverehrung der Katholiken bis in die Neuzeit hinein. Der Bezug zu Tradition und Familienverbänden, zu den Kräften der Natur ist im Vodou wichtig, in Europa ist dies alles der Industrialisierung geopfert worden und gilt heute bei spirituellen Suchern als Desiderat. So interessieren sich Ingenieure, Psychotherapeuten oder Beamte, Männer wie Frauen in der westlichen Industriegesellschaft für schamanische Praktiken oder afrikanische Religiosität.

Diese "spirituellen Wanderer“ (Ch.Bochinger) suchen vor allem nach lebensspraktischen Dimensionen von Religiosität, sie sind offen und ergebnisorientiert, und vor allem haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben. Die spirituellen Traditionen der Menschheit bieten viele Ressourcen, genauso wie auch die christliche Spiritualitätsgeschichte.

Der begrenzte kulturelle Rahmen, in dem diese Traditionen überliefert wurden, ist zugleich Hindernis und Chance. Hindernis, weil Menschen im 21. Jahrhundert in den Industriestaaten des Nordens nicht einfach Praktiken und Lebensweisen übernehmen können, die aus vorindustriellen, agrarischen Zusammenhängen kommen. Menschenrechte und Demokratie sind eine Messlatte auch für spirituelle Fragen. Christliche Spiritualität in der Weltgesellschaft ist ein umfassendes Dialogprojekt - ein Langzeitprojekt, in dem die vielfältigen kulturellen Gedächtnisräume der Menschheit miteinander ins Gespräch kommen müssen um des gemeinsamen Wohlergehens willen.

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