In der Zwickmühle der Identitäten

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Wegen des türkischen Referendums will die Regierung unerlaubte Doppelstaatsbürger aufspüren. Doch das eine habe nichts mit dem anderen zu tun, kritisieren Experten. Worum geht es in der Debatte? Ein Report.

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Wegen des türkischen Referendums will die Regierung unerlaubte Doppelstaatsbürger aufspüren. Doch das eine habe nichts mit dem anderen zu tun, kritisieren Experten. Worum geht es in der Debatte? Ein Report.

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Wer hätte gedacht, dass sich die Freiheitlichen für die doppelte Staatsbürgerschaft einsetzen? Für das Recht, sich nicht für einen Pass entscheiden zu müssen; mehrere Identitäten nicht nur zu leben, sondern diese auf Papier bestätigt zu bekommen. Die doppelte Staatsbürgerschaft, sagen die Freiheitlichen, soll ihnen zustehen. Den Südtirolern. Anders sieht es aus, wenn es um Türken geht. Dann schimpfen die Freiheitlichen über Missbrauch und fantasieren von Planquadraten, um mögliche Gesetzesbrüche durch doppelte Staatsbürgerschaft festzustellen.

Dass darüber diskutiert wird, hat mit dem türkischen Verfassungsreferendum zu tun, das Präsident Recep Tayyip Erdog an am Sonntag gewonnen hat; er hat damit seine Macht ausgebaut, das Parlament wurde geschwächt.

Die Grünen schätzen, dass sich über 10.000 Personen nach Erhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft die türkische zurückgeholt haben - gegen das Gesetz. Andere Schätzungen gehen von mehreren Zehntausend Personen aus, die den autoritären Kurs in der Türkei mitentschieden. Die unerlaubten doppelten Staatsbürger: Waren sie bislang ein offenes Geheimnis, wurden sie nun zum Politikum.

Ruf nach Kontrollen

Nicht nur die FPÖ, sondern auch die Regierungsparteien fordern strengere Kontrollen. Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) erklärte: "Die Staatsbürgerschaft ist eines der höchsten Güter. Einen Missbrauch nicht zu ahnden, sondern straffrei zu stellen, halte ich für untragbar." Experten prüfen nun eventuelle Verschärfungen, um Pässe zu entziehen. Tirol schreitet voran und hat, so heißt es, eine Task Force eingerichtet.

Eine "kollektive Bestrafung" sei das, kritisiert der Soziologe Kenan Güngör. Hätte die Regierung bisher schweigend zur Kenntnis genommen, dass viele zwei Staatsbürgerschaften besitzen, wolle sie es nun Erdog an heimzahlen. "Um gegen Missstände anzugehen, soll man nicht Missstände erzeugen", sagt er. Einzelne Personen wüssten nicht einmal, dass sie zwei Staatsbürgerschaften besäßen. Vor Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft haben letztere zwar die türkische zurückgelegt. Doch die türkischen Behörden leiteten den Prozess nicht immer ein, in der Annahme, dass diese Personen später erneut die türkische Staatsbürgerschaft beantragen.

"Doppelte Staatsbürgerschaft wird nur bei Türken problematisiert", sagt der Politikwissenschaftler Gerd Valchars. Tatsächlich gibt es für andere Nationen sehr gebräuchliche Ausnahmen. So dürfen Eltern verschiedener Nationalitäten für ihre Kinder legal zwei Pässe beantragen. Österreich bürgert zudem Prominente wie Anna Netrebko ein, die weiterhin ihren russischen Pass behält. Anerkannte Flüchtlinge behalten ihre ursprüngliche Nationalität, da ihnen nicht zugemutet wird, sich mit den Behörden ihres Heimatlandes auseinanderzusetzen.

Die Regel ist aber: Österreicher kann nur werden, wer seinen alten Pass abgibt. Zwei Jahre Zeit hat man, die Staatsbürgerschaft seines Heimatlandes zurückzulegen. So will es das Gesetz. Der rotweiß-rote Pass steht am Ende der Integrationsbemühungen als Beweis dafür, dass man es geschafft hat; dass man sich hauptsächlich mit dem Einwanderungsland identifiziert. "Das ist die Formel seit den 1990er-Jahren", sagt Valchars. Internationaler Konsens ist das nicht.

Denn ab den 1980er-Jahren wurde die Verleihung als Staatsbürgerschaft vermehrt als Element der Integration gesehen. Nicht als Zeugnis erfolgreicher Integrationsbemühungen, sondern als Startpunkt und Voraussetzung.

International üblich

So können beispielsweise Einwanderer in Kanada bereits nach vier Jahren um die Staatsbürgerschaft ansuchen - ohne die alte abgeben zu müssen.

Auch in der Mehrheit der EU-Staaten können Bürger zwei Staatsbürgerschaften besitzen, oftmals seit langem. Wer in Frankreich geboren ist, erhält seit 1973 den französischen Pass; Italien führte die doppelte Staatsbürgerschaft 1992 ein. In Deutschland dürfen Kinder ausländischer Eltern, die in Deutschland geboren sind, mindestens acht Jahre im Land gelebt oder sechs Jahre eine deutsche Schule besucht haben, eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen. Davor mussten sich junge Erwachsene mit 22 Jahren entscheiden -ein Modell, das sich eine knappe Mehrheit der CDU zurückwünscht, seit Erdog an Deutschtürken als seine Bürger anspricht.

In Österreich argumentieren die Grünen (mit Ausnahme von Peter Pilz) für legale Doppelstaatsbürgerschaften. Das sei "grüne Linie, seit es die Grünen gibt", sagt die Grüne Migrationssprecherin Alev Korun. Auch die Neos sprechen sich dafür aus. "Die Erleichterung von mehrfachen Staatsbürgerschaften ist eine Anpassung der Rahmenbedingungen an die Anforderungen von Demokratien im 21. Jahrhundert", schreiben sie in einem Positionspapier.

Sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass mit der Staatsbürgerschaft politische Rechte einhergehen und damit die Teilhabe an Gesellschaft und Arbeitsmarkt, sprich: Integration. Im Mipex-Index bewerten Forscher 167 Maßnahmen von 38 westlichen Staaten, um die Gesetzgebung zur Integration von Migranten zu bewerten. Die doppelte Staatsbürgerschaft wird darin als positiver Faktor angerechnet. Die besten Mipex-Werte erreicht Schweden, ein Land, in dem schon vor knapp zehn Jahren 57 Prozent der zweiten Generation von türkischen Einwanderern neben der schwedischen Staatsbürgerschaft auch die türkische besaßen; in Österreich waren es nur zwölf Prozent.

Der Regierung stößt sauer auf, dass Türken mit einer europäischen Staatsbürgerschaft für einen Machtausbau des zunehmend autoritären Präsidenten Erdog an stimmen konnten. Doch würde die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft loyale Bürger, die für die Demokratie eintreten, hervorbringen? Wohl kaum. Politikwissenschaftler Valchars kritisiert zudem eine Vermischung der Debatten. Er habe ständig gelesen, der Wahlkampf wurde nach Österreich getragen. "Das geschieht aber unabhängig davon, ob jemand doppelter Staatsbürger ist oder nicht." Die vergangenen Wahlen in Serbien etwa seien nicht thematisiert worden. Soziologe Güngör sieht in der Diskussion ebenfalls eine grundsätzliche Frage zu Loyalität, die unabhängig vom türkischen Referendum diskutiert werden müsse.

Das Paradox der Integration

Paradoxerweise sage die Türkei der Diaspora seit langem, "Integriert euch, aber ihr gehört trotzdem zu uns", sagt Güngör. Doch umgekehrt sage Österreich, "Integriert euch, aber ihr gehört trotzdem nicht zu uns". Die Debatten um fehlende Integration von Einwanderern sehen Forscher auch dem österreichischen Selbstverständnis geschuldet, die Staatsbürgerschaft erst nach mindestens sechsjährigem, im Regelfall zehnjährigem - ununterbrochenen - Aufenthalt zu vergeben, bei hohem Einkommen. Das österreichische Einbürgerungsrecht ist eines der restriktivsten europaweit. Und diejenigen, die den Prozess durchlaufen, sagt Güngör, verlören durch die zahlreichen Hindernisse oft das Gefühl dazuzugehören.

Mehr als eine halbe Million Wienerinnen und Wiener besitzen eine fremde Staatsangehörigkeit, ein Viertel aller Stadtbewohner. Das bringt einerseits Bürger hervor, die ihren Lebensmittelpunkt hier haben - denen aber die politische Teilhabe verwehrt wird. Das teilweise Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft bedeutet andererseits, dass sich Einwanderer für eine Identität entscheiden sollen.

"Wenn wir nur eine Staatsbürgerschaft haben, brechen wir deshalb nicht unsere Beziehungen ab", sagt Soziologe Güngör. "Es gibt Erinnerungen, Verbundenheit und Verwurzeltheit." Manche glaubten, das könne man über ein strenges Staatsbürgerschaftsmodell abändern, doch das sei ein Modell des 19. Jahrhunderts. "Mehr Internationalität würde nicht schaden."

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