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Eine vergessene Million

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Neuerwachtes islamisches Bewußtsein demonstrierte die Türkei als Gastgeberland der eben zu Ende gegangenen Islam-Konferenz. Entgegen Kemal Atatürks Grundsatz, den Glauben strikt von den Staatsaffären zu trennen, wurde bei Abstimmungen (zum Beispiel zur Palästinafrage) fleißig mitvotiert. Während man sich also in der Palästinenserfrage engagierte, blieb das Schicksal von rund einer Million islamischer Glaubensgenossen, die viel mehr benachteiligt sind, was die Ausübung ihrer Konfession und Kultur betrifft, als ihre palästinensischen Brüder, unerwähnt. Gemeint sind die türkischen und mohammedanischen Einwohner Bulgariens, rund eine Million Menschen, deren ethnische Zugehörigkeit zur Türkei vom Regime in Sofia geleugnet wird. Offenbar sogar mit Zustimmung Ankaras — türkische Widersprüche.

Normalerweise berichten Bulgariens Nachrichtenmedien überhaupt nichts über die größte nationale Minderheit des Landes, die mehr als 800.000 Türken und rund 120.000 Bulgaren mohammedanischen Glaubens, die sogenannten „Pomaks“. Um so mehr überraschte politische Beobachter in Sofia eine kurze Meldung, die vor wenigen Wochen in mehreren Provinzzeitungen erschien. Darin hieß es, in der Konsularabteilung des Außenministeriums hätte man einige Beschlüsse bezüglich des bulgarisch-türkischen Abkommens von 1968 getroffen. Danach sollten alle Türken bulgarischer Nationalität, die bereits Ausreisevisa in Händen haben, längstens bis zum 15. November 1976 um türkische Einreisevisa ansuchen, die „spätestens bis zum 31. Dezember 1976 erteilt werden“. Alle, die kein Visum beantragten, verlören nach Ablauf der Frist das Recht auf Emigration, heißt es im Amtstext weiter. Letztes Datum für die Abreise in die Türkei ist der 30. November 1978.

Zwischen 1949 und 1951 verließen 155.000 Türken Bulgarien, danach schoben die bulgarischen Behörden einen Riegel vor. Im Abkommen von 1968 verpflichtete sich Sofia, einer streng limitierten Anzahl von Türken die Ausreise zu erlauben, und zwar nur jenen, deren engste Verwandte zwischen 1944 und 1951 ausgewandert waren. Dreihundert Personen pro Woche lautete die Quote. Man schätzte die Zahl der Repatriierungsfähigen jedoch auf insgesamt 30.000. Bis Ende 1970 hatten erst 13.000 bulgarische Türken den Weg in die Heimat ihrer Ahnen gefunden, 1971 folgten ihnen weitere neun-bis zehntausend. Dann war — wieder einmal — Schluß.

Die Schuld an der Nichterfüllung der Auswandererquote lag diesmal nicht nur bei den bulgarischen Behörden, die munter Ausreisevisa für die als ethnische Minderheit ohnedies nicht sehr geschätzten türkischen Landsleute ausstellten. Vielmehr übte Ankara restriktive Einwanderungspolitik. Zwei Gründe waren dafür maßgebend:

• Der Rückstrom von Gastarbeitern aus Westeuropa schuf, zusammen mit den bulgarischen Einwanderern, unüberwindliche ökonomische Probleme.

• Ankara fürchtete, unter den Emigranten aus Bulgarien könnten sich zahlreiche getarnte kommunistische Agenten und Agitatoren befinden, die man sich angesichts der instabilen innenpolitischen Situation nicht leisten wollte.

Von massiven „Bulgarisierungspro-grammen“ weiß man seit sechs Jahren, als eine derartige Kampagne durch die Presse und den Rundfunk des Landes lief. Die bulgarische Exilzeitschrift „Badeschte“ in Paris veröffentlichte kürzlich einen Artikel, in dem die Durchführung von Namensänderungen im Bezirk Stara Zagora geschildert wird. Der Verfasser, selbst Bulgare türkischer Herkunft, schildert, wie Menschen geschlagen und deportiert wurden, die sich weigerten, eine „freiwillige Erklärung“ zur Änderung ihres Namens und ihres religiösen Bekenntnisses abzugeben. Ausweise, auf moslemische Namen lautend, wurden eingezogen, Poststücke nicht weitergeleitet. Die Bevölkerung wurde zwangsweise — für die neuen, auf bulgarische Namen lautenden Ausweise — photographiert. Anfang 1975 stellte die örtliche Radiostation ihr zweistündiges türkisches Programm ein, Türkisch wurde vom Lehrplan der Schulen gestrichen, islamischen Religionslehrern die Ausübung ihres Amtes untersagt, Frauen in traditioneller Tracht (Schleier und Pluderhosen) der Zutritt zu Läden und öffentlichen Verkehrsmitteln verweigert, türkische Inschriften auf Grabsteinen wurden verboten.

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