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Die Quadratur des Halbkreises

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Mitten in Algerienkrieg und Finanzkrise haben sich die Franzosen den Luxus einer lang- fädigen Krise geleistet. Ist das bloßer Ueber- mut? Langeweile? Es ist vor allem die Folge davon, daß die Kammerwahlen vom 2. Jänner 1956 katastrophale Folgen gehabt haben. Was damals noch als Schwarzseherei erscheinen mochte, wird heute von kaum jemandem mehr bestritten: die damalige überstürzte Auflösung einer noch halbwegs manövrierfähigen Kammer hat Frankreich als Ersatz eine Kammer beschert, die schon ihrer numerischen Zusammensetzung nach zur Untätigkeit verdammt ist.

Das Rechenexempel ist einfach. Da die 30 Sitze Algeriens nicht besetzt sind, zählt die Kammer zur Zeit 600 Abgeordnete. (Genau waren es im Oktober 1957 595 Abgeordnete, doch begnügen wir uns hier mit runden Zahlen.) Ein gutes Drittel davon bildet eine ,,Opposition aus Prinzip“, die nicht zu konstruktivem Zusammenspiel mit der Mehrheit bereit ist, sondern jeder Regierung das Bein zu stellen sucht: das sind die 150 Kommunisten, die Poujadisten und ein paar extremistische Einzelgänger auf beiden Flügelenden. Bleiben also in der Mitte noch rund 400 Abgeordnete, die in vier ungefähr gleich große Häufchen zerfallen: von links nach rechts die Sozialisten, die verschiedenen linksbürgerlichen Gruppen um die Radikalen samt der kleinen Widerstandspartei, die katholischen Volksrepublikaner und die „Unabhängige™ genannte gemäßigte Rechte. Und jedes dieser Häufchen hat andere Ziele. Die Sozialisten und die Volksrepublikaner vereint wohl ihr Eintreten für die westeuropäischen Integrationspläne, aber sie geraten sich über die katholischen Privatschulen in die Haare. Die Unabhängigen und die Radikalen verbindet wohl ihr Widerstand gegen die sozialistische Verstaatlichungstendenz, doch über das Mehr (Radikale) oder Weniger (Unabhängige) an Lockerung der Kolonialstruktur dürften sie sich kaum einig werden. So hat jedes der vier Häufchen mit jedem einzelnen der anderen etwas gemeinsam und etwas verquer. Aber irgendwie zusammenspannen müssen alle vier. Schon eine Koalition von immerhin dreien davon — entweder Rechte plus Volksrepublikaner plus Radikale oder dann Volksrepublikaner plus Radikale plus Sozialisten — genügt nicht. Ein paar Krankheitsabsenzen oder Auslandsreisen bei ihren Anhängern vermögen sie bei der nächsten Vertrauensabstimmung (die laut Verfassung persönliche Stimmabgabe verlangt) in Minderheit zu setzen.

Eine aktionsfähige Kammer könnte wohl nur durch eine Rückkehrzum alten Eine r- wahlkreissystem geschaffen werden, bei dem sich der Wähler nicht für eine abstrakte Liste, sondern für oder gegen eine konkrete Person zu entscheiden hat. In ruhigen Zeiten mag dieses System, wie ihm so oft vorgeworfen wurde, zu einer Vorherrschaft der Kirchturmpolitik führen: man wählt dann den Mann, der die eigenen begrenzten Interessen am besten zu verteidigen verspricht. Heute aber geht es um einige wenige große Probleme, die jedem Staatsbürger auf der Haut brennen — ja, im Grunde überhaupt nur um ein einziges Problem, denn Algerienkrieg und Finanzkrise sind ja nur zwei Seiten derselben Sache. Und hier wäre der Wähler nicht überfordert: es gelänge ihm wohl, herauszufinden, ob sein Kandidat für oder gegen die Fortsetzung des Algerienkrieges ist. Unter dem Druck Algeriens könnte es sehr wohl zu einem Durchbrechen des Parteienpluralismus und zu einem mächtigen Ruck auf ein Zweiparteiensystem hin kommen. Die Schwierigkeit ist nur, daß es in Frankreich kein Referendum gibt, mit dessen Hilfe der Wähler die, Rückkehr des alten Einerwahlkreissystems erzwingen kann. Es bedarf dazu eines von den Abgeordneten zti beschließenden neuen Wahlgesetzes. Und dieses stößt bei den beiden Parteien auf erbitterten Widerstand, die dank ihrer besonderen Struktur in Gefahr geraten,

isoliert zu werden: die Kommunisten und die Volksrepublikaner. Beide hängen am Proporz; die Kommunisten, weil sie die „nationale Koalition“ fürchten, und die Volksrepublikaner, weil die immer noch so regen laizistischen Affekte sie in den „Pfaffenwinkel“ drängen könnten.

Solange also keine Rückkehr zum Einerwahlkreissystem abzusehen ist, die zu klareren Mehrheitsverhältnissen führen könnte, muß von der gegenwärtigen Lage in der Kammer ausgegangen werden. Und hier stehen wir vor der traurigen Tatsache, daß die vier Häufchen des nichtextremistischen Lagers nur dann zusammenspannen können, wenn in ihnen die „Immobilisten“ den Ton angeben. Solche „Freunde der Bewegungslosigkeit“ — wie man das Wort am ehesten noch übersetzen kann — sind diejenigen Politiker, welche an die großen und sich aufdrängenden Reformaufgaben schon gar nicht herangehen, weil sie dafür eine Mehrheit gar nicht zu erhoffen wagen. Sie begnügen sich darum mit kleinen Reparaturen von Fall zu Fall und richten sich im Status quo ein. Irgendwie wird es schon weitergehen, wie es bisher weitergegangen ist — allen Kassandren zum Trotz.

Es sei jedoch nicht verschwiegen, daß es für diese Fraktionen der sehr breiten „Mitte“ doch noch drei Wege gäbe, Entscheidungen eines gewissen Ausmaßes zu erzwingen. Zwei davon sind sehr unpopulär in der Kammer. Der eine bestände darin, die Stimmen der Kommunisten für die Lösung eines bestimmten Problems in Kauf zu nehmen, ohne ihnen einen Einfluß auf die Regierung einzuräumen. So ist bei den antikolonialistischen Kräften in den verschiedenen Fraktionen die Meinung aufgetaucht, man könne von den Kommunisten ohne Gegenleistung ihre Mithilfe bei einer Liquidierung des Algerienkrieges erhalten. Dagegen aber schießen die Kolonialisten seit langem schon prophylaktisch Sperrfeuer, indem sie die Gefahr einer neuen „Volksfront“ an die Wand malen. Die zweite unpopuläre Lösung bestünde in der Bildung eines ausgesprochenen Minderheits- kabinettes, das mit Hilfe eines Druckes d.er Oeffentlicheit auf das Parlament zu regieren suchte. Das war die Methode von Mendės- France, der so 1954 den Indochinakrieg beenden konnte, aber sogleich mit ihr scheiterte, als er an Reformen gehen wollte, die Opfer von allen Schichten vorausgesetzt hätten.

Bleibt noch ein dritter Weg — derjenige, der seit den letzten Wahlen allein beschritten worden ist. Er besteht pärädoxer‘wös£s'- dsrin, k ie i n e Ministersessel anzunehmen., line „Regierung der nationalen Einheit“ vom Sozialisten Mollet bis zum Unabhängigen Pinay ist eo ipso zu bedeutenden Entscheidungen unfähig, weil sie zu große Gegensätze in sich schließt. (Daran ändert sich auch kaum etwas, wenn die „Bosses" Mollet und Pinay selbst nicht in der Regierung sitzen, sondern bloß ihre Platzwalter in sie delegiert haben.) Zudem sind die Unabhängigen auf dem rechten Flügel und die Sozialisten auf dem linken Flügel in Gefahr, erheblich Stimmen ihrer Wählerschaft an die anrainenden Extremisten zu verlieren, wenn sie mit dem innenpolitischen Gegner zusammen im gleichen Boot sind. Es bietet sich jedoch für die vier „zum Zusammenleben verurteilten" Lager der Regierungskoalition als Ausweg eine Arbeitsteilung an: die einen treten in die Regierung ein und die anderen unterstützen sie von außen mit ihren Stimmen.

Professor Duverger, der brillanteste jüngere Vertreter der politischen Wissenschaft, hat aufgezeigt, daß das auch automatisch zu einer Abgrenzung der „Einflußsphären“ führt. Die Farteien, die in der Regierung sitzen, verteilen die Pfründen unter ihren Anhängern und vermögen die kleinen Entscheidungen des Alltags zu lenken. Die' außerhalb der Regierung verbleibenden nichtextremistischen Parteien, von deren „Duldung" das Kabinett abhängig ist,, verlangen als Gegengabe dafür von den am Ruder befindlichen Parteien den Verzicht auf deren Fernziele. Ein aufschlußreiches Beispiel dafür ist die bisher längste Regierung der Vierten Republik — die Regierung Mollet, die von Anfang 1956 bis in die Mitte dieses Jahres hinein amtierte. Die nicht an ihr teilnehmende Rechte erzwang von ihr nicht nur den Verzicht auf hochfliegende Pläne einer sozialen und wirtschaftlichen Umwälzung , (die an sich nicht bedeutende Altersrente allein wurde ihr als „Alibi“ gegenüber der linken Wählerschaft zugestanden). Die mehrheitlich auf der Rechten lokalisierten Kolonialisten nötigten ihr vor allem auch den Verzicht auf den traditionellen Antikolonialismus der französischen Linken ab. Und es kam zu dem grotesken Schauspiel, daß die Regierung des Sozialisten Mollet in Algerien eine Repressionspolitik durchführte, die sich eine Regierung der Rechten niemals erlauben könnte, ohne auf der Linken einen Entrüstungssturm hervorzurufen. Die paradoxe „Beliebtheit", die Mollet damals bei den Kolonialisten genoß, ist leicht zu erklären: man hatte ihn dank des „nationaler. Minderwertigkeitskomplexes" des an die Macht gekommenen Sozialdemokraten in der Hand. Man konnte ihm mit dem Vorwurf, es mangle ihm wohl an „nationaler Haltung“, jede Anwandlung zu einer liberaleren Politik in Algerien austreiben. Ein paar Straßenaufläufe mit nationalistischem Vorzeichen am 6. Februar 1956 in Algier genügten, um den ganzen stolzen Antikolonialismus der SP in der Mottenkiste verschwinden zu lassen. Man verstellt darum die auf den ersten Anhieb unsinnig erscheinende Prophezeiung, daß es- in Algerien erst dann zu einer Wendung in liberalem Sinne kommen werde, wenn in Paris die kolonialistischen Kräfte innerhalb der so heterogenen Regierungskoalition offen das Steuerrad übernehmen würden.

Das Tragische an der neuen französischen Regierung ist. daß sie nach 36tägiger Krise der Resignation entsprungen ist. Wenn sich in ihr die Rechte und die Sozialisten zusammenspannen, so heißt das nicht, daß sie ihre Gegensätze begraben hätten — im Gegenteil! Aber man konnte sich angesichts des drohenden antiparlamentarischen Gewitters einfach keine Weiterführung der Krise mehr leisten. Und Felix Gaillard, mit 3 8 Jahren der jüngste Ministerpräsident in der Geschichte der französischen Republik, hat vorgezogen, alle nichtextremistischen Parteien in seine Regierung einzubeziehen, statt ein Minderheitenkabinett der Mitte ohne die feindlichen Flügel der Rechten und der Sozialisten zu bilden. Die Folge wird sein, daß die allzu heterogenen Elemente dieser Regierung sich gegenseitig paralysieren werden. Das zeigt sich schon beim wichtigsten Problem Gaillard, der persönlich einer Aenderung der Al- gerienpolitik nicht abgeneigt wäre, hat den Sozialisten Lacoste auf dem Prokonsulposten in Algier belassen müssen. Damit ist der Ausweg in liberalere Lösungen jenseits des Mittelmeeres blockiert. Und die Hoffnungen, die sich an den Aufstieg eines jungen, unverbrauchten Mannes knüpften, drohen in der Mühle der kurzfristigen Augenblickslösungen grausam zerrieben zu werden.

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