Eine Union, weit größer als der Kontinent

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Die Vision eines "großen Europas" vom Atlantik bis zum Japanischen Meer beschäftigt nicht nur den EU-Ratsvorsitzenden Sivio Berlusconi. von wolfgang machreich

Ein hoher Raum ist nicht Bedingung, aber hilfreich, um den Ausführungen von Herbert Kraus zu folgen. Und der Raum im Palais Kaiserhaus, nicht weit von der Wiener Hofburg entfernt, in dem Kraus die Furche trifft, ist prächtig hoch. Um einiges weiter reicht jedoch die Vision, die den früheren Politiker und Gründer des VdU (Verband der Unabhängigen) sein Leben lang vor allem aber seit dem Zerfall der Sowjetunion umtreibt: "Eine Großeuropäische Konföderation, die alle Staaten zwischen Atlantik und Japanischem Meer vereinigt." Und während Kraus seine Vision erklärt, spricht sich fast zeitgleich Silvio Berlusconi für ein "großes Europa" aus. Zufall?

Zuerst sorgte die Erklärung des EU-Ratsvorsitzenden, wonach unter anderem auch Russland ein Mitglied der Union werden soll, für Schrecken bei der EU-Kommission in Brüssel. Der für Erweiterungsfragen zuständige Kommissar Günter Verheugen stutzte die Vision des italienischen "Cavaliere" auch sogleich auf eine "maßgeschneiderte Zusammenarbeit" für Russland zurecht, die "aber ganz klar unterhalb der Schwelle der Mitgliedschaft" liege. Gerhard Mangott, Russland-Experte am Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP), deutet Berlusconis Vorstoß zum einen als "italienische Großmannssucht", zum anderen als Ausdruck der engen wirtschaft- lichen Verbindungen, vor allem im Erdgas-Geschäft, zwischen Italien und Russland.

Chirac & Chubais & Mock

Herbert Kraus wählt da schon lieber die Formulierung: "Er ist davon erfüllt." Kraus nennt noch zahlreiche andere Namen internationaler und österreichischer Politiker, die dem Großeuropa-Gedanken nicht fernstehen sollen. Im Mai vor zehn Jahren gründeten einige von ihnen "in der prunkvollen Atmosphäre des Kaiserpalais" die "Kommission für ein Großes Europa". Die hohen Räume beflügelten auch diese Gruppe. Als Hauptziel wurde "die Vorbereitung einer dauerhaften Partnerschaft" beschlossen, "die zur Vereinigung des großen Russland mit der ebenso großen Europäischen Union samt allen dazustoßenden Staaten führen sollte". Zum Präsidenten der Kommission wählte man Jacques Chirac, seine Vize wurden der deutsche Liberale Otto Graf Lambsdorff, der stellvertretende russische Regierungschef Anatolij Chubais und der österreichische Außenminister Alois Mock.

Von Chiracs Engagement ist Kraus enttäuscht: "Er traut sich nicht." Dafür setzt der Europavisionär auf den russischen Präsidenten: "Putin ist davon erfüllt", so wie sein politischer Lehrmeister, der verstorbene Bürgermeister von St. Petersburg, Anatolij Sobtschak. Bei Putin bestehe "die Hoffnung, dass eine Übereinstimmung zwischen der großeuropäischen Idee und allem großrussischen Denken gefunden werden wird".

"Nicht herbeizwingbar"

Gerhard Mangott sitzt nicht mit Herbert Kraus im hohen prächtigen Raum im Wiener Palais Kaiserhaus. Der Russland-Experte tut sich deswegen leichter, seine Skepsis zu formulieren. Mangott sieht mittel- und langfristig in Russland keine politische Kraft, "die bereit ist, das Land in eine supranationale Organisation einzubinden und damit Souveränitätsrechte abzugeben". Eine Großeuropäische Union sei "politisch nicht herbeizwingbar", ist er überzeugt. Was nicht heißt, so Mangott, dass es kein gegenseitiges Interesse an intensiver Zusammenarbeit gebe. Der Experte nennt drei Bereiche, wo es noch an der konkreten Umsetzung des politisch bereits möglichen Miteinanders hapert: Erstens, die "weiche" Sicherheitspolitik. Der Kampf gegen Organisierte Kriminalität, Kooperationen beim Grenzschutz und das Vorgehen gegen Proliferation, also gegen den Handel mit Atomwaffen oder deren Bestandteilen. Zweitens gebe es noch nicht ausgeschöpfte Kooperationsmöglichkeiten im Bereich der "harten" Sicherheitspolitik. Mangott ortet auf russischer Seite Interesse an einer Mitarbeit bei der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Lösung des Transnistrien-Konflikts (siehe Bei- trag über Moldau auf Seite 4) biete sich als erstes Exerzierfeld an, auf dem der sicherheitspolitische Gleichschritt geprobt werden könnte, schlägt Mangott vor. Und drittens sieht der Russland-Spezialist noch viele ungenutzte Kapazitäten, was den Bereich Energiepartnerschaft zwischen EU und Russland betrifft.

Das Stichwort für den freiheitlichen EU-Parlamentarier Hans Kronberger ist gefallen. "Wohin werden die russischen Energieströme fließen?" nennt er als die entscheidende Frage der Zukunft. Deswegen sei eine Annäherung zwischen der Europäischen Union und Russland, vor allem für erstere, "ein Gebot der Stunde", erklärt der Parlamentarier. Dadurch könnte die EU auch das gravierende Handelsmissverhältnis beheben. Bald gehen nämlich 50 Prozent des russischen Exports in die Länder der Union, vom EU-Gesamtexport aber bloß zwei Prozent nach Russland. Und Kronberger warnt: "Wenn wir das Jahrhundert- projekt Energiedialog verschlafen, begehen wir einen katastrophalen Fehler." Dass die Union in diesem Bereich nicht schläft, liegt unter anderem an Kronberger selber. Der EU-Abgeordnete sitzt im parlamentarischen Ausschuss für die Zusammenarbeit von EU und Russland. Sitzen ist in diesem Fall der falsche Ausdruck. Drei, vier Mal im Jahr, zählt Kronberger auf, sei er in Russland unterwegs, um "das große Rätsel", das die Union für viele Russen nach wie vor ist, aufzuklären.

Auch Herbert Kraus hält es nicht länger am Platz. "Sehen Sie dieses Bild", fragt er die Furche, springt aus dem Fauteuil auf und rennt zu einem Gemälde an der Wand, das den Abschluss des Österreichischen Staatsvertrags im Schloss Belvedere zeigt. "Zwischen denen und denen", deutet Kraus auf zwei Gruppen am Bild, "haben wir eine kleine Fläche gemacht." Der 92-Jährige zeichnet mit seinem Finger ein kleines Quadrat in der Mitte des Gemäldes. "Das war der Start, da hat Großeuropa seinen Ausgang genommen." Der Unterschied zwischen dem Gespräch mit dem Visionär Kraus, der seinen Blick meistens in die Ferne richtet, und den Interviews mit dem Wissenschafter Mangott bzw. dem Politiker Kronberger könnte nicht größer sein. Kraus ist getrieben vom Wunsch, seine Vision an die jüngere Generation weiterzugeben. Er spricht immer wieder von einem historischen Auftrag: "Diese Generation kann den schon halb eröffneten Weg zu einem friedlich vereinigten Kontinent gehen." Ob es dezidierte Feinde seiner Idee gebe, fragt die Furche. Kraus: "Ich kenne keine ausgesprochenen Gegner. Es ist mehr Bequemlichkeit, aber auch Angst, die vor dem mühsamen Weg hin zur einzig konsequenten Friedensordnung für Europa zurückschrecken lassen." In Kraus' aktuellem Buch, in dem er seine Vision und die Schritte dorthin bis ins Detail ausführt, schreibt er ein wenig resignierend: "Es ist mir klar geworden, dass diese Politiker meine Idee für die Zukunft akzeptierten, aber nicht für die von ihnen selbst zu meisternde Gegenwart."

Gegenwärtig ist auch mehr von den Differenzen in den transatlantischen Beziehungen zwischen Europa und den USA die Rede als von einer Union bis in den Fernen Osten. Könnte aber nicht die Beziehung zwischen Europa und Russland ein Nutznießer der transatlantischen Krise sein? Gerhard Mangott winkt ab: "Das sowjetische Ziel, Europa von Amerika zu entfernen, gibt es in Russland nicht mehr." Mangott sieht Putins-Außenpolitik eher in Richtung einer "Vermittlertätigkeit" zwischen Europa und den USA tendieren. "Ost, West, Mitte - wer bietet mehr?" Mit dieser Gegenfrage habe ihm der russische Vizeaußenminister auf die Frage nach der Ausrichtung Russlands geantwortet, erzählt Hans Kronberger. "Wenn wir Europäer uns bemühen", glaubt er, "haben wir aus kulturellen und geographischen Gründen einen Startvorteil."

Und die Menschenrechte?

Und wie sieht es mit dem Be- mühen Russlands aus? Ist Putins Politik in Menschenrechtsfragen, im Justiz- und Medienbereich, nicht zu vergessen im Tschetschenien-Krieg mit dem europäischen Wertekodex vereinbar? "Streng genommen", meint Mangott, "müssten Russland aus den Verschlechterungen, die in all diesen Bereichen stattgefunden haben, extreme politische und rechtliche Konsequenzen von Seiten der EU erwachsen." Die Intensität der 1994 begründeten strategischen Partnerschaft zwischen Brüssel und Moskau basiert nämlich auf den Forschritten, die Russland bei der Angleichung seines Werte- und Rechtssystems an das europäische mache. "Doch ein Land wie Russland lässt sich nicht zwingen", gibt der Experte zu. Deswegen hält er "eine dialogische Politik" für die bessere Strategie im Umgang mit dem Kreml.

"Wir müssen nur schöne Worte finden", sagt Herbert Kraus dazu, "dann finden wir zusammen." Kraus' Anliegen, dass viel mehr als bisher wechselseitig die Sprachen des anderen gelernt werden, trifft sich mit dem Bestreben von Hans Kronberger, den Studentenaustausch zu forcieren. "Mitweltbewusstsein" nennt Kraus das entscheidende Kriterium, das seiner Vision zum Durchbruch verhelfen wird: "Schritt für Schritt verstärkt sich die Überzeugung, dass die Menschheit aufeinander angewiesen ist und dass es nicht nur um den Aufstieg der eigenen Nation geht." Während er redet, blickt Kraus wieder in die Ferne. Und der hohe Raum im Palais Kaiserhaus erleichtert es, den Ausführungen des Visionärs zu folgen.

BUCHTIPP:

EUROPA MIT RUSSLAND VEREINT

Eine Vision für das 21. Jahrhundert

Von Herbert Kraus und Gergana Schulak, Molden Verlag, Wien 2003 geb., 158 Seiten, e 19,80

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