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Englands Wahlkampf rollt

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Das demokratische System in Großbritannien basiert auf einem Instinkt für klare Entscheidungen und für Stabilität. Es verhindert nicht den Aufstieg einer dritten Partei — wie der Labour-Partei in diesem Jahrhundert —, aber diese Partei kann nur die zur Bildung einer Regierung erforderliche Stärke erreichen, wenn sie an die Stelle einer der beiden anderen Parteden tritt. In fast jedem Wahlkreis gibt es lokale Parteiorganisationen der Konservativen und der Labour-Partei, und in vielen von ihnen haben die großen Parteien bezahlte Wahlagenten, die Wahlveranstaltungen organisieren, Geld sammeln und den Wahlkampf leiten.

Sobald die Kandidaten nominiert sind, folgen neun volle Tage intensiver Wahlvorbereitung mit Lautsprecherwagen und öffentlichen Versammlungen in großen Fabriken. Gleichzeitig gehen Legionen freiwilliger Helfer von Haus zu Haus, während die Kandidaten den Wahlkampf in den Lokalzeitungen weiterführen.

Die Bekanntgabe der Wahlmanifeste aller Parteien erfolgt mit einem Maximum an Publicity, und jeder Kandidat schickt seinen persönlichen Wahlaufruf per Post kostenlos an alle Wähler, die auf der Liste stehen. In den Londoner Parteizentralen finden täglich Pressekonferenzen statt, und es werden Texte unzähliger Wahlreden verteilt. Die Parteiführer reisen mit einem Gefolge von Journalisten durch das ganze Land, während sich der Premierminister für drei bis vier größere Wahlreisen und für große Reden freimacht. Alle Parteiführer müssen damit rechnen, daß ihnen vom Publikum mit Zwischenrufen und Fragen kräftig zugesetzt wird, aber das gilt durchaus als fair und amüsant. Dagegen wird jeder Versuch, einen Sprecher am Reden zu hindern, sofort von allen Parteien und von den Wählern verurteilt. Die Wahlkampfkosten sind gesetzlich streng begrenzt, und die Wahl eines Unterhausabgeordneten kann wegen Verstoßes gegen diese Vorschriften angefochten werden. Die Höhe der Kosten richtet sich nach der Größe der Wählerschaft und beläuft sich auf maximal 750 Pfund plus eine winzige Summe für jeden Wähler. Damit dieser enge Rahmen nicht überschritten wird, muß die Arbeit von Freiwilligen getan werden.

Die beiden großen Parteien haben die gleiche freie Sendezeit (insgesamt 75 Minuten) im Fernsehen und im Rundfunk. Die übrigen Parteien erhalten etwa entsprechend der Größe ihrer Vertretung im Unterhaus Sendezeiten zugemessen, wobei jedoch recht großzügig verfahren wird.

Auch zwischen den Wahlen haben die Parteien freie Fernseh- und Rundfunksendezeiten. Für die großen Parteien sind das sechs Rundfunk- und fünf Fernsehsendungen (insgesamt 105 Minuten), die gleichzeitig auf allen Kanälen gesendet werden. Alle diese Bestimmungen sind genau festgelegt, und keine Partei versucht, Sendezeit im kommerziellen Fernsehen zu kaufen. Sie wäre dazu auch nicht befugt. Zusätzlich zu den offiziellen Parteisendungen, nehmen auch die Nachrichtensendungen Bezug auf die Wahlen, so daß so gut wie jeder die führenden Politiker vom Bildschirm oder Radio her kennt. Für einen erfolgreichen Politiker ist es sehr wünschenswert, wenn auch nicht unerläßlich, daß er im Fernsehen gut „ankommt“. Die alten Wahlversammlungen in den einzelnen Wahlkreisen, an denen früher Tausende teilnahmen, gehören der Vergangenheit an. Die Versammlungen finden noch statt, aber sie sind mehr ein Zugeständnis an die Tradition als eine Notwendigkeit. Die Gesamtzahl der Wähler belief sich 1966 auf 36 Millionen. Davon gaben 75,8 Prozent ihre Stimmen ab. Bei den kommenden Wahlen sind insgesamt 40 Millionen wahlberechtigt — davon fünf Millionen Jungwähler, die zum erstenmal an die Wahlurnen gehen.

Das ist mehr als der normale Zuwachs an jungen Wählern, da das Wahlalter inzwischen von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt wurde. Effektiv kommen drei Millionen junge Wähler zwischen 18 und 21 Jahren hinzu, von denen sich jedoch viele nicht in die Wahllisten eingetragen haben oder von ihrem Stimmrecht keinen Gebrauch machen werden. Dennoch machen die Jungwähler einen wichtigen Prozentsatz der Wählerschaft aus in einem Land, in dem ein Vorsprung von einer Million Stimmen der Siegerpartei eine unantastbare Mehrheit im Parlament sichert.

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