Stricken an der Alibi-Demokratie

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Für die Qualität einer Demokratie ist deutlich mehr entscheidend als die Tatsache, dass ein Regierungschef vom Volk gewählt wurde.

Auch in Österreich geben aktuelle Entwicklungen Grund zur Sorge. Wenn ein Vizekanzler dem ORF explizit Lüge unterstellt, dann ist das ein Versuch, die Pressefreiheit auszuhöhlen.

Vor gut zwei Wochen trat in Ungarn ein, woran es auch im Vorfeld kaum Zweifel gegeben hatte: Die nationalkonservative Regierungspartei Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán wurde bei der Parlamentswahl erneut stimmstärkste Kraft. Weniger absehbar war die Deutlichkeit des Wahltriumphes: Erneut kann Orbán auf eine Zweidrittelmehrheit zurückgreifen - seine Regierung damit in Eigenregie die Verfassung ändern. Das Erreichen der Verfassungsmehrheit ging sich freilich nur aus, weil die Regierung zuvor das Wahlrecht geändert hatte. Es begünstigt die stärkste Partei nunmehr überproportional, wie Wahlforscher penibel aufschlüsselten. Und so wurden aus weniger als der Hälfte der Wählerstimmen mehr als zwei Drittel der Parlamentssitze für die amtierende Regierung.

Viktor Orbán wurde demokratisch gewählt. Sein Regierungsstil aber ist jener eines Autokraten in einer Formaldemokratie. Mit dem Wahlerfolg im Rücken folgten die nächsten scharfen Maßnahmen der Orbánisten auf dem Fuß: Vier Tage nach der Wahl veröffentlichte die regierungsnahe Tageszeitung "Figyelö", im Besitz einer engen Beraterin Orbáns, eine Liste mit 200 -so der Wortlaut -"Söldnern", die zum Netzwerk des in Ungarn geborenen US-Milliardärs George Soros gehören sollen. Soros wird vom Orbán-Lager seit Jahren als Staatsfeind Nummer eins verunglimpft und war während des Wahlkampfs zum Ziel massiver antisemitisch konnotierter Kampagnen der Regierung geworden. Die veröffentlichte Liste mit Professoren, Menschenrechtlern und Wissenschaftlern - unter ihnen auch der österreichische Politikwissenschaftler Anton Pelinka -ist als gezielte Denunziationsmaßnahme zu werten. Als klassischer Einschüchterungsversuch gegenüber Personen der Öffentlichkeit, die nicht auf Regierungslinie liegen.

Die politische Lage in unserem Nachbarland allerdings hält zahlreiche Politiker und Kommentatoren westlich von Budapest nicht ab, Orbán nach seinem Triumph ausgiebig zu applaudieren. Unter den Politikern sind solche rechtspopulistischer Parteien wie der FPÖ, die schon lange mit Orbáns Politikstil sympathisieren, aber ebenso Konservative wie der deutsche Innenminister Horst Seehofer. Im publizistischen Spektrum rückt indes auch hierzulande eine kleine aber laute Gruppe aus, um den ungarischen Weg in Blogs und sozialen Medien zum Vorbild zu erklären. Schließlich sei Orbán das personifizierte Bollwerk gegen muslimische Einwanderer. Und weil die Mehrheit der Bevölkerung Migration aus islamisch geprägten Ländern ablehne, sei das Orbán-Ungarn demokratischer als westliche Staaten der Europäischen Union. Westliche EU-Mitglieder, die sich von der Demokratie entfernen? Ungarn als bessere Demokratie?

"Systemische Bedrohung" des Rechtsstaats

Grund-und Freiheitsrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention oder der Grundrechtecharta der EU festgelegt sind, werden von der Regierung Orbán seit Jahren systematisch eingeschränkt. Die Forschungsfreiheit gerät unter Druck, Versammlungs- und Pressefreiheit werden zunehmend ausgehöhlt: Eine der ersten Maßnahmen von Orbáns Kabinett nach Amtsantritt 2010 war die Verabschiedung eines restriktiven Mediengesetzes. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde mit Vertrauensleuten durchsetzt und zum Orbán-Funk umgebaut, regierungskritische Medien wurden mittels Eigentümerwechsel auf Fidesz-Linie gebracht. Die letzten verbleibenden Zeitungen, die nicht auf Regierungslinie sind, werden durch systematischen Informations-und Inseraten-Boykott ausgehungert. Auch private Unternehmen stehen unter Druck, nicht in regierungsunabhängigen Medien zu inserieren. Dass diese auch keine Interviews mit Ministern und dem Regierungschef bekommen, versteht sich von selbst.

2011 setzte Orbán eine Verfassungsreform durch -im beschleunigten Verfahren und ohne öffentliche Debatte. Der Verfassungsgerichtshof -eine der wesentlichsten Einrichtungen für "Checks and Balances", für die Kontrolle der Gewaltenteilung in einer Demokratie -wurde zahnlos gemacht. Er darf Verfassungsgesetze nur noch formal, nicht mehr inhaltlich prüfen. Geschäftsleute aus Orbáns Umfeld erhielten während seiner Ära öffentliche Aufträge in Milliardenhöhe. Die Ausschreibung für neue Straßenbeleuchtung in mehreren Städten etwa wurde auf die Firma von Orbáns Schwiegersohn maßgeschneidert. Transparency International weist in Berichten auf "systemische Korruption" in Ungarn hin, im jährlich erhobenen Korruptionsindex ist das Land während der vergangenen Jahre auf die vorletzte Stelle aller EU-Mitglieder abgerutscht.

Es ist jedem Politiker, jedem Publizisten, jedem Bürger unbenommen, hinter Orbáns Linie in der Migrationspolitik zu stehen. Das ändert aber nichts am realen Demokratiedefizit in Orbáns Ungarn. Für die Qualität einer Demokratie ist deutlich mehr entscheidend als die Tatsache, dass ein Regierungschef vom Volk gewählt wird. Der Grundstoff aus Geschichte und politische Bildung in der Mittelschule reicht für diese Erkenntnis aus. Viele Regierungen, die ihre Staaten später zu autoritären Systemen entwickelten, gelangten durch (relativ) demokratische Wahlen an die Macht. Der Status der Grund-und Menschenrechte, das Ausmaß von Meinungs-,Versammlungs-und Pressefreiheit sind entscheidende Parameter für den Status einer Demokratie. All diese Rechte schränkt die Regierung Orbán gezielt ein. Und treibt damit eine schleichende Entdemokratisierung voran. Ein Bericht des EU-Parlaments kam kürzlich zum Schluss, dass in Ungarn eine "systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte" herrsche.

Gelenkte Demokratie in Wien?

Indessen befürchten Kritiker auch in Österreich eine "schleichende Orbánisierung", den Trend zu einer gelenkten Demokratie. Drohende ungarische Verhältnisse in Wien? Ist das nicht etwas hoch gegriffen? Tatsächlich steht Österreich in Bezug auf seine Demokratiequalität auf völlig anderer Ebene als sein östlicher Nachbar. Die Kontrollinstanzen des heimischen Rechtsstaats funktionieren gut. Die Höchstgerichte - Verfassungs-,Verwaltungs-und Oberster Gerichtshof -arbeiten mit starkem Fokus auf die Wahrung von Grund-und Freiheitsrechten. Die Justiz insgesamt genießt im internationalen Vergleich hohes Vertrauen, die Pressefreiheit ist stark verankert.

Dennoch geben Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit auch hierzulande Grund zur Sorge: Wenn FP-Vizekanzler Heinz-Christian Strache dem ORF explizit Lüge unterstellt; wenn der blaue Stiftungsrat Norbert Steger dem Öffentlich-Rechtlichen bei nicht genehmer Berichterstattung mit "Streichung" von Korrespondentenstellen droht; dann sind das nicht nur offensichtliche Einschüchterungsversuche, die beunruhigende Einblicke in das Demokratieverständnis von Mitgliedern einer Regierungspartei geben. Es sind auch deutliche Versuche, die Pressefreiheit auszuhöhlen. Ebensowenig ist es im Sinne demokratischer Kontrolle ein gutes Zeichen, wenn ein Überwachungspaket, das weiträumige Eingriffe in die Grundrechte von Bürgern ermöglicht, ohne öffentliches Expertenhearing im Parlament beschlossen wird.

Die Vorgänge in Ungarn sollten auch im Rest Europas überzeugte Demokraten aller Weltanschauungen und politischen Lager wachsam machen. Denn noch eine weitere Erkenntnis lehrt der Blick in die Geschichtsbücher der Mittelschule: Für die langfristige Erhaltung demokratischer Systeme ist entscheidend, dass widerlaufende Tendenzen bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt erkannt -und klar benannt -werden.

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